Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis auf die Knochen

Bis auf die Knochen

Titel: Bis auf die Knochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
Vom Netzwerk:
doch sie musste sich auch nicht um F ä lle aus angrenzenden Countys k ü mmern – auch das war bei uns in Knoxville anders. Das junge Mordopfer, das als Drag-Queen gekleidet im State Forest im benachbarten Marion County gefunden worden war, war eine Ausnahme.
    Bis vor einem Monat hatte Jess’ f ü nfk ö pfigem Team ein forensischer Anthropologe angeh ö rt, Rick Fields, ein ehemaliger Student von mir. Doch Rick hatte gerade eine ä hnliche Position im regionalen rechtsmedizinischen Institut in Memphis angetreten, was ein gro ß er Schritt war, sowohl bez ü glich des Gehalts als auch bez ü glich der Zahl der F ä lle: In Memphis gab es rund einhundertf ü nfzig Morde pro Jahr, verglichen mit f ü nfundzwanzig oder drei ß ig in Chattanooga. W ä hrend Jess noch einen Ersatz f ü r Rick suchte, sprang ich hier unten ein, genau wie sie seit Garland Hamiltons Beurlaubung vom Dienst wegen Inkompetenz als Medical Examiner in Knoxville aushalf.
    Ich begr üß te Amy, die Empfangsdame, die durch ein kugelsicheres Fenster von der Eingangshalle getrennt war. Amy zeigte zu meiner Rechten auf das Ende des Geb ä udes, wo die Obduktionss ä le lagen, und ö ffnete mir summend die Stahlt ü r auf dieser Seite der Eingangshalle. Jess war gerade dabei, die Bauchh ö hle einer ä lteren Wei ß en zuzun ä hen. » Sag nicht, du hast hier noch einen Mord «, sagte ich.
    Ohne von ihren Stichen aufzuschauen, antwortete sie: »Nein, aber sie ist allein gestorben. Dickdarmkrebs. Sie war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, um zu sterben. Das Tragische an der Sache ist, dass sie eigentlich in einem Hospiz h ä tte betreut werden sollen, doch irgendwie gingen die Unterlagen verloren, und sie konnte nicht gleich aufgenommen werden. Wenn es so gelaufen w ä re wie geplant – wenn es eine nahtlose Ü bergabe vom Krankenhaus zum Hospiz gegeben h ä tte –, h ä tte ich nicht zwei Stunden opfern m ü ssen, um zu best ä tigen, was wir bereits ü ber ihre Todesursache wissen.«
    Jess trug ausgeblichene Jeans – blau, nicht schwarz – und einen kastanienbraunen Kittel. So m ü de wie heute hatte ich sie noch nie erlebt. Irgendwie aber auch weniger zur ü ckhaltend und daf ü r menschlicher. Es weckte in mir den Wunsch, mich um sie zu k ü mmern und ihr einen Teil der Last abzunehmen, die sie trug. » Nichts f ü r ungut, aber du siehst aus, als w ä rst du auf dem besten Weg, selbst Betreuung durch ein Hospiz zu brauchen «, sagte ich.
    » Du zungenfertiger Schmeichler, du «, parierte sie, doch den klugschei ß erischen Worten fehlte das gewohnte klugschei ß erische Knistern.
    » Im Ernst «, sagte ich, » geht’s dir gut? «
    » M ü de. Wirklich m ü de. Letzte Woche hatte ich sechs Obduktionen hier und vier in Knoxville und bin nach Nashville gefahren. Im letzten Monat hatte ich nur zwei Tage frei, zwei Sonntage. Ich brauche unbedingt einen Sektionsassistenten, aber unser Budget ist so eng, dass das Einzige, was uns aus den roten Zahlen h ä lt, diese zwei offenen Stellen sind, der Assistent und der Anthropologe.« Ich hatte mir nie Gedanken dar ü ber gemacht, welche Last Jess trug; ihre Bereitschaft, in Knoxville eine zweite Schicht einzulegen, war bemerkenswert gro ß z ü gig, doch es ging ihr rasch an die Substanz.
    Ihre Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz zur ü ckgebunden, doch eine Str ä hne hatte sich gel ö st und fiel ihr ins Gesicht. Sie konnte sie nicht wegschieben, denn ihre Handschuhe waren schmutzig, also tat ich das f ü r sie. Dann legte ich ihr eine Hand an die Wange. Sie lehnte sich dagegen, und es f ü hlte sich gut an, also legte ich ihr auch noch die andere Hand an die andere Wange und barg ihr Gesicht in meinen H ä nden. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und stie ß die Luft wieder aus. Dabei lie ß sie den Kopf noch tiefer in meine H ä nde sinken und die Schultern h ä ngen vor Ersch ö pfung. Die behandschuhten H ä nde hingen seitlich an ihr herunter. Ich umfasste mit den H ä nden ihre Schultern, dann umarmte ich sie und zog sie an mich. Sie wehrte sich nicht, sondern legte den Kopf an meine Brust. » Es tut mir leid, dass du so m ü de bist, Jess «, murmelte ich. Als Antwort darauf erzitterte sie leicht; vielleicht war es auch ein Schluchzer. Doch dann richtete sie sich wieder auf und zog sich von mir zur ü ck. Ich hielt sie fest und versuchte, sie zu tr ö sten. » Pst «, sagte ich. » Entspann dich einfach f ü r eine Minute.«
    Aus irgendeinem Grund begriff ich nicht, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher