Bis auf die Knochen
verstummten, wenn eine Kollegin der beiden – und die Geliebte des einen – ermordet wurde.
Doch es gab auch noch eine andere Erkl ä rung f ü r das angespannte Schweigen, das den Raum erf ü llte und das fast so greifbar war wie eine dritte Person: Auf der anderen Seite des Flurs, im gro ß en Sektionssaal, wurde Jess Carters Leiche obduziert, und zwar von Garland Hamilton. Einem Sektionsassistenten zufolge, der mich mit schmerzerf ü llter Miene gegr üß t hatte, als ich gekommen war, hatte er vor zwei Stunden angefangen. Falls Garland nichts Ungew ö hnliches fand, war er vermutlich bald fertig.
Es machte die Sache nicht gerade leichter, dass Jess’ verst ü mmelte Leiche von einem Medical Examiner untersucht wurde, der schlampig und inkompetent war. Wom ö glich ü bersah er Beweise oder deutete sie falsch, und das konnte dazu f ü hren, dass die Polizei nicht hinter die Logik der Tat kam und den M ö rder nicht fand; umgekehrt bildete er sich wom ö glich Beweise ein, wo es eigentlich keine gab, wie bei Billy Ledbetters Obduktion, wo er einen zuf ä lligen Schnitt in der Haut am R ü cken als tiefe, t ö dliche Stichwunde interpretiert – oder eher missinterpretiert – hatte, die angeblich im Schlingerkurs um die Wirbels ä ule herum und durch den Brustkorb f ü hrte, bevor sie in einen Lungenfl ü gel eindrang.
Als ich ein wenig Gewebe vom Hinterhauptloch – der gro ß en Ö ffnung an der Sch ä delbasis, durch die das R ü ckenmark f ü hrte – kratzte, rutschte mir das Skalpell aus der rechten Hand. Ich machte einen erfolglosen Versuch, es zu packen, und der Sch ä del rollte mir aus der linken Hand und fiel verkehrt herum polternd in das Edelstahlwaschbecken. Ich starrte darauf – der Sch ä del war mit dem Sch ä deldach im Ablauf zu liegen gekommen, und das Wasser, das aus dem Hahn lief, staute sich im Waschbecken – und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich stand wie versteinert vor dem steigenden Wasser: Jetzt f ü llte es die Augenh ö hlen, jetzt die Nasenh ö hle, jetzt leckte es an den Z ä hnen des Oberkiefers. Miranda kam her ü ber, legte mir sanft eine Hand auf den R ü cken, beugte sich ü ber das Waschbecken und drehte mit der anderen Hand das Wasser ab. » Es ist okay «, sagte sie freundlich. » Sie m ü ssen das nicht machen. Warum fahren Sie nicht nach Hause? «
» Ich will nicht nach Hause «, sagte ich. » Ich wei ß , dass es mir da nicht gef ä llt.«
» Gef ä llt es Ihnen hier? «
» Eigentlich nicht. Aber es ist nicht so schlimm, wie zu Hause zu sein.«
» Dann bleiben Sie hier «, sagte sie. » Versuchen Sie nur, nichts kaputt zu machen. Wie w ä re es, wenn Sie die restlichen R ö hrenknochen reinigen und mir den Sch ä del ü berlassen? « Ohne eine Antwort abzuwarten, holte sie den Sch ä del aus dem Waschbecken und brachte ihn zu dem anderen Becken, an dem sie gearbeitet hatte.
» Ich habe mit ihr geschlafen «, sagte ich, den Blick immer noch in das jetzt leere Becken gerichtet. » Mit Jess. Letzte Woche, als ich unten in Chattanooga war, um nach Craig Willis’ Leiche zu sehen und raus zum Tatort zu fahren. Sie hat mich an dem Abend zu sich nach Hause eingeladen, und da sind wir zusammen ins Bett gegangen.« Ich wandte mich zu Miranda um. Sie war ein wenig rot geworden. Sie beugte sich ü ber den Sch ä del und schrubbte mit einer Zahnb ü rste das restliche weiche K ö rpergewebe aus den Vertiefungen.
» Warum erz ä hlen Sie mir das? «
» Ich wei ß nicht. Weil es f ü r mich wichtig war. Es war das Beste, was mir seit langem passiert ist. Es kam mir vor wie der Beginn von etwas. Und jetzt ist sie tot. Tot.«
Jetzt sah sie mich an, und ihrer Verlegenheit war Mitleid gewichen. » Es ist nicht Ihre Schuld, wissen Sie.«
» Nein, das wei ß ich nicht «, sagte ich, » genauso wenig wie Sie. Sie versuchen nur, mich zu tr ö sten, und das ist sehr nett von Ihnen, aber ich werde den Gedanken nicht los, dass es da irgendwo eine Verbindung zu mir gibt.«
» Und die w ä re? «
» Ich … ich wei ß nicht. Wenn sie sich nicht mit mir eingelassen h ä tte, w ä re ihr Exmann vielleicht nicht in eine m ö rderische Wut geraten. Wenn sie an dem Tag, als die Mutter von Craig Willis in mein B ü ro st ü rmte, nicht dort gewesen w ä re, h ä tte diese verr ü ckte Frau sie nie gesehen und behauptet, Jess w ä re b ö se.«
» Wenn sie sich nicht mit Ihnen eingelassen h ä tte, w ä re Jess vielleicht v ö llig ausgerastet und h ä tte in einem Kindergarten
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