Bis das Blut gefriert
anderen Gästen war noch nichts aufgefallen. Sie waren zu sehr mit sich selbst oder ihren Bekannten und Freunden beschäftigt. Das Stimmengewirr hatte sich gehalten, nur eben die drei konnten den Brunnen nicht mehr aus den Augen lassen.
»Wie in der Nacht«, flüsterte Flavio. Er hatte sich gesetzt und schützend einen Arm um Rosanna gelegt. »Weiß der Padre denn Bescheid?«
»Ja, ich habe es ihm gesagt. Er will uns helfen. Er und seine beiden Freunde aus England. Sie sind noch an der Ausgrabungsstätte und wollen sich dort umschauen.«
Flavio zeigte Widerspruch. »Aber da ist doch das Blut gewesen, verdammt. Und nicht hier.«
»Jetzt ist es aber hier!«, zischte Rosanna. »Es hat unser Dorf erreicht, das siehst du doch.«
»Dann lass uns abhauen.«
»Ha, wohin denn?«
»Zu dir!«
Rosanna musste wieder lachen. Diesmal lauter. »Willst du vom Regen in die Traufe kommen? Nein, Flavio, das geht nicht. Bei uns zu Hause ist das Blut aus dem Boden gequollen. Ich bin mir fast sicher, dass es auch an anderen Stellen so abgelaufen ist. In Häusern, in der Kirche, es wird bald überall sein. Das alte Blut der Menschen, die hier gestorben sind. Ich kann es nicht erklären, aber...«
»Hör doch auf!« Flavio griff nach Ignatius’ Arm. »Können Sie denn nichts tun? Sie sind doch ein Mann der Kirche.«
»Was verlangen Sie?«
»Stoppen Sie es.«
»Ich bin weder Zauberer noch Schamane, junger Freund. Hier sind andere Mächte am Werk.«
Das sahen sie immer stärker. Der Anteil des Wassers in der Flüssigkeit war stark zurückgegangen. Was jetzt aus dem Maul der Figur schoss, hatte schon eine erschreckende Ähnlichkeit mit normalem Blut. Nicht nur von der Farbe her, auch von der Dicke. Es sah beinahe schon aus wie dunkelrotes Öl.
Erst jetzt fiel ihnen auf, dass es um sie herum still geworden war. Ignatius riskierte einen Blick zur Seite.
Die anderen Gäste unterhielten sich kaum noch. Wenn, dann nur flüsternd. Und es gab keinen, der seinen Blick nicht auf den Brunnen gerichtet hätte. Selbst das Personal bediente nicht mehr. Die Mädchen standen wie Salzsäulen auf dem Fleck, und ihre Mienen sprachen Bände. Sie hatten Angst. Sie konnten es nicht fassen. Sie begriffen einfach nichts mehr.
Das Blut floss träge aus dem Maul in den Brunnen hinein. Wenn es auftraf, hörte sich das Geräusch auch anders an als beim Wasser. Es verursachte ein hartes Klatschen, und es waren nur wenige Spritzer, die in die Höhe schossen.
Dann schrie ein Mädchen. »Blut! Verdammt, das ist ja Blut! Ich werde nicht mehr. Das halte ich nicht aus!« Schreiend rannte sie davon und sorgte mit ihrer Aktion dafür, dass auch die anderen Gäste nicht mehr auf ihren Plätzen blieben...
***
Die Stimme zu hören war für mich schlimm gewesen. Sie hatte einen widerlichen Klang. Ich konnte es mir nicht so recht erklären, aber für mich wirkte sie überzüchtet, und sie passte auch zum Druck der Mündung in meinem Nacken.
Ich blieb auf dem Boden liegen. Ich wusste nicht, wer neben mir hockte, aber in diesen Sekunden dachte ich auch an meinen Freund Bill Conolly, von dem ich nichts gesehen hatte. Auch er musste überrascht worden sein.
Das er mein Gehirn ›fressen‹ wollte, war zwar normalerweise übertrieben, aber nicht ganz wegzudiskutieren. So etwas gab es oder hatte es gegeben, als der Götze Charun noch aktiv gewesen war. Aber das lag Tausende von Jahren zurück, und jetzt musste ich mir die Frage stellen, ob Charun gar nicht vernichtet worden war und immer noch irgendwie existierte.
»Ich habe verstanden«, flüsterte ich in meinem miserablen Italienisch. »Aber was soll das alles? Wer bist du?«
»Einer, der dich töten wird!«
»Bist du Charun?«
Ich hatte die Frage aufs Geratewohl gestellt und hörte zunächst ein Lachen. Wieder so schrill und unnatürlich. »Ich... ich... wollte, es wäre so. Mein Traum, ja, es wäre mein Traum. Aber er kann sich noch erfüllen. Ich werde fast an seine Macht heranreichen, wenn ich alles richtig mache.«
»Du willst werden wie er?«
»Ja. Das Blut ist da. Es ist nicht versickert. Keiner hat damit rechnen können, aber ich. Ich habe die Schriften studiert. Ich habe den alten Zauber genau nachvollzogen. Ich bin in der Lage, dir dies zu sagen. Das Blut ist da.«
»Habe ich leider bemerkt«, erklärte ich. »Es hätte mich beinahe erwischt.«
»Du bist nicht würdig gewesen. Du bist ein Fremder. Ein verdammter Eindringling. Ebenso wie dein Freund. Und deshalb werdet ihr beide zu den Opfern des
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