Bis das der Biss uns scheidet
schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, leuchtet vor mir ein steck-nadelkopfgroßes rotes Licht auf. Schnell eile ich weiter auf das größer werdende Licht zu, bis der schmale Tunnel in einer gigantischen Grotte aus rotem Fels endet.
Mit einem Seufzer der Erleichterung richte ich mich auf und sehe mich um. Die Grotte sieht aus wie eine Attraktion in einem Themenpark für Irre. Hunderte von Leuten lümmeln am Ufer eines blutroten Flusses herum. An einer wackeligen Anlegestel e liegt ein langer Fährkahn und wartet darauf, Passagiere aufzunehmen. Bemannt ist er mit einem hochgewachsenen, attraktiven älteren Gentleman, der einen schicken Dreiteiler trägt.
»Da ist er«, ruft Fitter aus. »Charon, der Fährmann.«
»Das ist Charon?« Zweifelnd ziehe ich die Augenbraue hoch. »Ich hatte ihn mir immer als ein Skelett oder so was vorgestel t.«
Okay, wie wir schon festgestel t haben, bin ich keine Expertin in antiker Mythologie, aber den Fährmann im Videogame Gods of War hab ich immerhin total fertiggemacht. »Und wo ist sein Ruder?«
Fitter grinst. »Ist schon tol , was man heutzutage mit plastischer Chirurgie bewirken kann, nicht wahr? Ein kleiner Wel nessurlaub in Russland, schon war er so gut wie neu.« Er kichert, dann fügt er hinzu: »Und was das Ruder betrifft – wir sind schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht im alten Griechenland.
Irgendwann in den Neunzigern hat er die Fähre mit einem hübschen Außenborder, Model Marine Tech Navigator, nachgerüstet.
Der faule Kerl hatte einfach keine Lust mehr zu rudern.«
Na so was. Ich werfe einen zweiten Blick auf den uralten Kahn. Tatsächlich, am hinteren Teil ist ein glänzender schwarzer Motor angebracht. So ein Verfal der Sitten.
»Ist dies die Warteschlange?«, wirft Race mit einem Blick auf seine Armbanduhr ein.
»Wenn al diese Leute vor uns dran sind, schaffen wir's heute Nacht auf keinen Fal mehr überzusetzen.«
»Nein, nein«, beruhigt Fitter ihn mit einer abschätzigen Handbewegung in Richtung der Menge. »Das sind nur al die armen Schlucker, die nicht bezahlen können.« Er schüttelt den Kopf. »Es wird mit jedem Jahr schlimmer, kann ich euch sagen.
Anscheinend denkt niemand mehr daran, seine lieben Verstorbenen mit ausreichend Fahrgeld für die Fähre zu bestatten.«
Ich betrachte die Menge aus Elfen, Vampiren und anderen anderweltlichen Geschöpfen, die al e mit ziemlich kläglicher Miene herum-laufen. »Was passiert denn nun mit ihnen?«, erkundige ich mich.
»Sie hängen für hundert Jahre hier am Ufer fest«, erklärt Fitter. »Wenn sie so lange durchhalten, steht ihnen danach eine kostenlose Fahrt zu.«
»Oh, Mann, das ist aber hart. Vielleicht sol te der Typ in Erwägung ziehen, alle zehn Jahre einmal einen Gruppentarif anzubieten«, bemerke ich. »Damit würde er es den Leuten wenigstens ein kleines bisschen leichter machen.«
Wir gehen den Hang hinunter in Richtung Anlegestel e. Der Fährmann sieht zu uns herüber, wirft einen Blick auf Fitter und schüttelt den Kopf. »Sieh mal an, wer da hereinschneit«, sagt er mit tiefer, rauer Stimme. »Mischst du dich jetzt unters gemeine Volk?«
»Freut mich auch, dich zu sehen, Char«, entgegnet Fitter steif und guckt ein bisschen beleidigt.
»Ich habe heute Nacht eigentlich deinen Bruder erwartet. Er hat mir vor etwa einer Stunde gemailt, dass er mit einer ganzen Bootsladung deutscher Touristen hierher unterwegs ist.«
Fitter verdreht die Augen. »Ach, du kennst doch Schnitter. Er hat sich wahrscheinlich mit Weizenbier vol gekippt und jedes Zeitgefühl verloren. Ich habe denen da oben schon hundert Mal gesagt, sie sol en ihn nicht in München einsetzen. Er kann dem Bier und den Bratwürsten einfach nicht widerstehen.«
»Oh nee«, stöhnt Charon. »Dann wird er wieder nur dummes Zeug faseln und vollkommen betrunken hier auftauchen, wie immer zwei Sekunden, bevor ich Feierabend machen wil .«
»So sieht's aus.«
»Also, was machst du schon wieder hier?«, fragt der Fährmann. »Und wer sind die da?
Ich dachte, wir hätten gerade erst ein langes Gespräch zum Thema Höl enführungen für Lebende geführt, nachdem du das letzte Mal mit diesem jungen Mädchen hier aufgetaucht bist.«
»Also, streng genommen sind wir keine Lebenden«, bemerke ich. »Wir sind Untote.«
Charon zuckt mit den Schultern. »Wenn ihr nicht gepfählt, verbrannt oder enthauptet worden seid, werdet ihr hier unten als Lebende klassifiziert. So einfach ist das.«
»Und woher wol en Sie
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