Bis Das Feuer Die Nacht Erhellt
»Wir müssen weitergehen. Wenn Scott beschließt, in den Tunneln zu suchen, dann müssen wir schneller sein.«
Die Luft war schal und feucht und roch nach Rost. Der Clownskopf war nur noch eine ferne Erinnerung. Das einzige Licht kam von roten Glühbirnen in der höhlenartigen Decke, die gerade lange genug aufleuchteten, um ein aufgehängtes
Skelett anzustrahlen, einen auseinanderfallenden Zombie oder einen Vampir, der aus einem Sarg auftauchte.
»Wie weit noch?«, fragte ich Rixon über die verzerrten Misstöne von Heulen, Kichern und Jammern, die um uns herum hallten.
»Der Maschinenraum ist direkt vor uns. Danach sind wir in den Tunneln. Scott blutet ziemlich stark. Er wird nicht sterben – Patch hat dir alles über Nephilim erzählt, oder? –, aber er könnte durch den Blutverlust ohnmächtig werden. Vielleicht findet er vorher keinen Tunneleingang mehr. Wir sind wieder über der Erde, bevor du es merkst.« Sein Selbstvertrauen klang etwas übertrieben, ein bisschen zu optimistisch.
Wir drangen weiter vorwärts, und ich hatte das unheimliche Gefühl, dass wir verfolgt wurden. Ich wirbelte herum, aber die Dunkelheit schluckte alles. Wenn da jemand war, konnte ich ihn nicht sehen.
»Glaubst du, dass Scott uns gefolgt sein könnte?«, fragte ich Rixon mit leiser Stimme.
Rixon blieb stehen und drehte sich um. Einen Augenblick später sagte er bestimmt: »Da ist niemand.«
Wir setzten unseren eiligen Marsch zum Maschinenraum fort, und ich fühlte plötzlich wieder eine Präsenz hinter mir. Meine Kopfhaut kitzelte, und ich blickte schnell über die Schulter. Dieses Mal konnte ich die Konturen eines Gesichts in der Dunkelheit ausmachen. Ich schrie beinahe auf, und da wurden die Konturen zu einem besonderen und wohlbekannten Gesicht. Mein Vater.
Sein blondes Haar leuchtete hell in der Dunkelheit, seine Augen leuchteten, aber traurig. Ich habe dich lieb.
»Dad?«, flüsterte ich. Aber ich trat vorsichtig einen Schritt zurück. Ich erinnerte mich an die anderen Gelegenheiten. Es war ein Trick. Ein Betrug.
Es tut mir leid, dass ich dich und deine Mom verlassen musste.
Ich wollte, dass er verschwand. Er war nicht wirklich. Er war eine Bedrohung. Er wollte mir wehtun. Ich erinnerte mich daran, wie er meinen Arm durch das Fenster des Reihenhauses gerissen und versucht hatte, mich zu schneiden. Ich erinnerte mich daran, wie er mich durch die Bibliothek gejagt hatte.
Aber seine Stimme war dieselbe, sanft und überzeugend, die er beim ersten Mal im Reihenhaus benutzt hatte. Nicht die fordernde, scharfe Stimme, die sie abgelöst hatte. Es war seine Stimme.
Ich habe dich lieb, Nora. Was auch immer geschieht, versprich mir, dass du dich daran erinnerst. Es ist mir egal, wie und warum du in mein Leben getreten bist, wichtig ist nur, dass du es getan hast. Ich kann mich nicht an alles erinnern, was ich falsch gemacht habe. Aber ich erinnere mich daran, was ich richtig gemacht habe. Ich erinnere mich an dich, Nora. Du hast meinem Leben Bedeutung gegeben. Du hast es zu etwas Besonderem gemacht.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte, seine Stimme daraus zu entfernen, fragte mich, warum Rixon nichts sagte – konnte er meinen Vater denn nicht sehen? Gab es nichts, was wir tun konnten, damit er verschwand? Doch eigentlich wollte ich gar nicht, dass die Stimme aufhörte. Ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte, dass er echt wäre. Ich brauchte ihn, damit er seine Arme um mich legte und mir sagte, dass alles wieder ins Lot kommen würde. Und am allermeisten wollte ich, dass er nach Hause zurückkam.
Versprich mir, dass du dich an mich erinnern wirst.
Tränen liefen mir über die Wangen. Ich verspreche es dir, dachte ich zurück, wenn ich auch wusste, dass er mich nicht hören konnte.
Ein Todesengel hat mir geholfen, hierherzukommen und mit dir
zu sprechen. Er hat die Zeit für uns angehalten, Nora. Er hilft mir, mit deinem Bewusstsein zu sprechen. Es gibt etwas Wichtiges, das ich dir erzählen muss, aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muss bald zurück, und du musst mir genau zuhören.
»Nein«, würgte ich heraus, und meine Stimme hörte sich erstickt an. »Ich gehe mit dir. Lass mich nicht allein hier. Du darfst mich nicht wieder verlassen!«
Ich kann nicht bleiben, mein Kleines. Ich gehöre jetzt an einen anderen Ort.
»Bitte geh nicht«, schluchzte ich und presste die Fäuste gegen meine Brust, als könnte ich so mein Herz daran hindern anzuschwellen. Verzweifelte Angst ergriff mich, wenn ich daran dachte, dass er
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