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Bis dass der Tod uns scheidet

Bis dass der Tod uns scheidet

Titel: Bis dass der Tod uns scheidet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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als eine Ameise, und sie sind die Könige und Königinnen, Tunnel und Hügel, die dich von dem abhalten, was du sein könntest. Sie haben dich zum Bewohner eines Ameisenhaufens gemacht.
    »Mr. McGill?«, fragte Mardi.
    »Ja, Schätzchen?«
    Sie musste immer lächeln, wenn ich sie so nannte.
    »Sie sind eingenickt.«
    »Was ist mit Twill?«, fragte ich.
    »Hm? Was soll mit ihm sein?«
    »Wenn ich dich bitten würde, mir eine kurze Zusammenfassung zu ihm zu geben, was würdest du dann sagen?«
    Die blasse junge Frau runzelte die Stirn und lehnte den Kopf ein klein wenig zurück.
    »Ich frage nicht nach Geheimnissen«, sagte ich. »Ich will mich nicht in seine Geschäfte einmischen, zumindest nicht über dich. Ich möchte nur wissen, wie du ihn beschreiben würdest, wenn dich jemand darum bäte.«
    »Warum?« Sie hielt das Wort vor sich wie ein Einsatzkommando seine durchsichtigen Schutzschilde.
    »Weißt du, was das Wichtigste ist, das ein Privatschnüffler kapieren muss?«, fragte ich.
    »Was denn?«
    »Dass alle anderen Dinge wissen, die er nicht weiß. Alle sehen Dinge, die er übersehen hat. Alle. Wenn er sich nur auf seinen eigenen Verstand, sein Gedächtnis und seinen Blickwinkel verlässt, kriegt er nie ein Bein auf die Erde.«
    »Aber was, wenn die Sie anlügen?«, wollte Mardi wissen. »Wie Shawna?«
    »Die einzige wirkliche Lüge ist die, die ungesagt und unerkannt bleibt«, antwortete ich. »Shawna hat gelogen, aber was sie mir verraten hat – ihr Gesicht und ihr Stil –, das war eine Wahrheit, die ich deuten konnte. Das ist der Grund, warum nicht jeder das tun kann, was ich tue.«
    Mardi sah mich argwöhnisch an. Ich sagte ihr die Wahrheit, aber etwas daran verstand sie nicht. So viel wusste sie, aber mehr auch nicht.
    Unter ihrem prüfenden Blick fiel mir wieder ein, dass dies tatsächlich die Frau war, die beschlossen hatte, den Mann umzubringen, den sie für ihren Vater hielt, um ihre Schwester vor seinen Nachstellungen zu schützen.
    »Er ist wie Achilles«, sprangen ihr plötzlich die Wörter aus dem Mund.
    »Was?«
    »Twill«, erklärte sie. »Er ist wie einer dieser alten Helden. Beowulf und Achilles und Gilgamesch waren alles nur Männer, aber sie waren so perfekt, dass niemand das glauben konnte. Twill ist noch viel besser.«
    »Wie das?«, fragte ich.
    »Weil er nicht glaubt, dass er besser ist als irgendjemand sonst.«
    »Mein Sohn ist also perfekt, wollen Sie sagen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ihm das Einfühlungsvermögen fehlt«, flüsterte sie scharfsinnig. »Er, er sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Und er hat keine Angst, das zu tun, was er für das Richtige hält oder, nein … nicht das Richtige, sondern das Beste.«
    Ja, dachte ich, Twill war der ideale Revolutionär im Sinne meines Vaters, ein williger Passagier auf dem frei treibenden Dinghi, das ich verlassen hatte.
    Ich stand auf und ging ins Allerheiligste, mein Büro. Erst eine ganze Weile später ging mir auf, dass ich Mardi für ihre Einblicke und Mühen gar nicht gedankt hatte.

13
    Am frühen Nachmittag stand ich vor dem Amtsgerichtsgebäude Downtown und wartete. Ich trug einen meiner vier dunkelblauen Allzweckanzüge und schwarze Lederschuhe Größe 46, extraweit. Das weiße Hemd war nach ein paar hundert Waschgängen bei Lin Paos Reinigung grau geworden, eine meiner Socken war schwarz, die andere dunkelbraun. Ich war zu dem geknechteten Arbeiter geworden, den mein Vater immer in mir sehen wollte – wenn auch mit einem überraschenden Dreh.
    Ich war ein Raubtier, das vom unsichtbaren Äther persönlicher Informationen lebte. Kein digitaler Quatsch, nein, ich schlich mich in die Seelen der Menschen, nahm ihnen ihren kostbarsten Besitz, ihre Geheimnisse. Doch obwohl ich diese Freveltat tagein, tagaus beging, hätte ich mich selbst wohl als rehabilitiert bezeichnet – früher mal ein Monstrum, heute ein einfacher Schuft.
    Und warum wartete ich hier auf der Straße? Ich war mir nicht sicher. In den vergangenen achtundvierzig Stunden hatte ich zweiundzwanzigtausend Dollar als Vorschuss darauf genommen, eine Frau zu beschützen, die ich nicht zu sehen bekommen hatte, und zwar vor einem Mann, der vielleicht in sie verliebt war. Ein Held der Arbeiterklasse aus dem irren Götterhimmel meines Vaters würde niemals einen solchen Auftrag annehmen. Ich lächelte, als mir dies aufging, und spürte, ich war dem Geschoss des Revolutionärs entgangen.
    In diesem Augenblick schaute ich auf und sah einen jungen

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