Bis du erwachst
besorgte er sich etwas im Imbiss, und zu Hause hing er dann vor dem Fernseher ab, die Fernbedienung in der Hand. Er wusste ganz genau, dass er auch diese Nacht nicht genug Schlaf bekommen würde, und versuchte, sich deswegen keine Sorgen zu machen.
Der einzige Lichtblick in seinem Leben waren seine Schwester Charlotte und ihre beiden Kinder, aber manchmal deprimierten ihn die Besuche bei ihnen. Natürlich konnten sie nichts dafür. Aber wenn er sah, wie hart Charlotte als alleinerziehende Mutter zu kämpfen hatte, störte es ihn schon gewaltig, dass er nicht einfach in die Tasche greifen und sie richtig unterstützen konnte. Ihr einfach etwas Knete rüberzuschieben wäre nett gewesen, damit sie die letzten Rechnungen bezahlen konnte, oder ihr ein paar hundert Pfund zu geben und ihr zu sagen, sie solle mit den Kindern mal schön in Urlaub fahren. Als Bruder war er ein totaler Versager, und Charlotte und die Kinder zu sehen führte ihm seine Unzulänglichkeiten direkt vor Augen. Aber er hatte versprochen, den Lichtschalter in Georges Zimmer zu reparieren, und das würde er immerhin schaffen.
«Schön, dass du da bist, du hast uns allen gefehlt», sagte seine Schwester warm, als er das Haus betrat.
«Wie geht es den Kleinen denn?»
«Es geht ihnen prima. George führt sich in letzter Zeit allerdings ziemlich auf, und da habe ich gehofft …»
Michael fand es furchtbar, wenn Charlotte von ihm verlangte, dass er ihren vierjährigen Sohn George erzog.
«Was ist denn los?», fragte er und hoffte, dass es nicht allzu unleidlich klang.
«Wenn er bei seinem Vater ist, ist er ganz brav und lieb, aber sobald er wieder zu mir nach Hause kommt, führt er sich auf wie der letzte Rotzbengel, das ist los.»
«Ich rede mal mit ihm.» Vielleicht würde er auch nur mit ihm losziehen und ihm eine Tüte Schokotäfelchen kaufen, dachte Michael bei sich. Er hatte in etwa so viel Lust, dem kleinen Kerl Manieren beizubringen, wie sich einen Zahn ziehen zu lassen. Was der Kleine wirklich brauchte, war die Nähe zu seinem Vater, oder vielleicht auch nur zu irgendeinem Mann, zu dem er aufsehen konnte. Sobald bei ihm alles in Ordnung wäre, könnte er George jedes zweite Wochenende zu sich nehmen, dann könnten sie einen richtigen Männerabend machen, ein Zelt vor dem Fernseher aufstellen und Dinosaurier jagen. Im Moment wollte er aber nicht, dass George auch nur einen Fuß in seine schäbige Wohnung am Dog Kennel Hill setzte. George würde warten müssen, bis er sich ein Haus gekauft hatte. Vielleicht sogar mit Garten, dann könnten sie richtig zelten. Er konnte es kaum erwarten!
Michael brummte etwas in Georges Richtung, was vage streng klang, und verbannte ihn zur Strafe in sein Zimmer. Er war recht zufrieden mit sich, bis ihm einfiel, dass sich in ebenjenem Zimmer nicht nur das ganze Spielzeug befand, sondern auch noch die Süßigkeiten, die Michael unvorsichtigerweise sofort überreicht hatte.
Als er seine Onkelpflichten erledigt hatte, ging Michael zurück ins Wohnzimmer zu Charlotte und Serena.
«Hast du ihn dir ordentlich vorgeknöpft?»
«Ja, hab ich», erwiderte er, nahm auf dem Sofa Platz und sah abwesend die Zeitschriften durch, die auf dem Couchtisch lagen. Charlotte las dauernd irgendwelche Ratgeber und Magazine, lauter Quatsch.
«Du hast also mit Jen Schluss gemacht?»
«Ja», sagte er und nahm eine Psychologiezeitschrift zur Hand.
«Du hast also Bindungsangst?»
«Nein, Charl.» Michael griff sich die Zeitung vom Vortag vom Sideboard, worauf ein Stapel Papiere und Broschüren zum Vorschein kam, darunter ein paar Rabattgutscheine von Tesco und ein Argos-Katalog.
«Du warst so lange mit Jen zusammen, und ich hab sie nicht mal kennenlernen dürfen! Das heißt, stimmt nicht – ich bin ihr ja mal im Supermarkt begegnet!»
«Das hat nichts damit zu tun», beharrte er, obwohl er wusste, dass es vergebliche Liebesmüh war. Charlotte hatte sich längst eine Meinung gebildet. Sie analysierte ihn jedes Mal, wenn er zu Besuch kam.
«Mumma!», heulte die vierzehn Monate alte Serena in rhythmischen Abständen. Charlotte war kaum noch zu verstehen.
«Ja, ich weiß, dass das dein neues Wort ist, aber ich versuche gerade, mit deinem Onkel Michael zu reden!», lachte Charlotte. «Ich kann gar nicht glauben, dass sie mich endlich Mumma nennt und nicht mehr Dadda. Fortschritt!»
«Allerdings», meinte Michael, ehrlich gerührt von seiner Nichte.
«So, meine Kleine, du hast eine stinkige Windel», sagte sie, klemmte sich ihre
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