Bis du erwachst
Tochter unter den Arm und ging hinaus.
Die Stille hielt nicht lange vor. «Hallo, Onkel Mike, Mummy hat gesagt, dass ich wiederkommen darf», sagte George und stolperte herein. Seine Strafpredigt schien ihn nicht sonderlich aus der Fassung gebracht zu haben. «Du hast da was verloren», fügte er hinzu und bückte sich nach einem Kärtchen.
«Ist wohl aus einer Zeitschrift gefallen. Deine Mum hat davon ja jede Menge.»
«Sie hat gesagt, wenn Dr. Phil wiederkommt, will sie nicht mehr so viele lesen. Wer ist Dr. Phil?»
Michael zuckte mit den Schultern und nahm das Kärtchen.
«Deine Schwester schläft in ihrem Bettchen, seid also ein bisschen leise», sagte Charlotte, als sie zurückkam. «Ihr eigener Gestank hat sie umgeworfen. Also, wo waren wir stehengeblieben?»
Michael betrachtete die orangefarbene Visitenkarte – von Kidzline, dem Kindernotruf – und spürte ein vages Gefühl der Vertrautheit, als er die Karte umdrehte und den Text las:
Nur einen Anruf entfernt.
7
Cara saß gegenüber vom Krankenhauseingang auf einer Bank.
Ade hatte sie vorgewarnt, dass ihre Mutter unterwegs war. Er hatte sogar gesagt, wie lange sie vom Flughafen brauchen würde – und er lag fast bis auf die Minute richtig. Das schwarze Taxi hielt vor dem Fen Lane Hospital, und Cara sah zu, wie eine Frau, die nur wenig größer war als sie selbst, dem Wagen entstieg, elegant wie ein Filmstar bei einer Premiere. Doch statt blitzender Kameras erwartete sie draußen ein kleines Wetterleuchten. Statt des Geschreis begeisterter Fans heulte die Sirene eines Krankenwagens auf, der unterwegs zur Notaufnahme war. Die Frau war Mitte sechzig, wirkte aber mindestens fünfzehn Jahre jünger, und ihre Bewegungen waren so schwungvoll wie die einer Dreißigjährigen.
«Behalten Sie den Rest, guter Mann», sagte sie zu dem Taxifahrer mit betont vornehmem Akzent und strich sich über den Pagenkopf.
Von ihrer Bank aus konnte Cara erkennen, dass der Taxifahrer hocherfreut war. Er stellte den silbernen Koffer und die schwarze Reisetasche mit einem schalkhaften Zwinkern auf dem Gehsteig ab.
«Danke, Herzchen», erklärte er.
Die Frau zog aus einem winzigen silbernen Täschchen Spiegel und einen Lippenstift und trug eine neue Schicht Farbe auf. Dann schaute sie auf ihre flachen schwarzen Schuhe hinunter und verzog das Gesicht; vielleicht vermisste sie ein schönes Paar Stilettos an den Füßen. Vermutlich war dies das Einzige, worin Cara je mit ihr übereinstimmen würde.
Die Frau bewegte sich langsam zur Pforte, hinter sich einen Rollkoffer, der laut und nervtötend quietschte. Cara war versucht, einfach draußen sitzen zu bleiben und sich eine Pause vom trostlosen Krankenzimmer zu gönnen, doch der Himmel verdüsterte sich schon, und von Ferne grollte Donner. Sie wusste, dass sie hineingehen und ihrer Mutter gegenübertreten musste.
«Hallo, Kitty», sagte Cara. Obwohl ihr bewusst war, wie lächerlich das klang, war sie fest entschlossen, ihre Mutter nie anders als Kitty zu nennen.
«Cara?» Ihre Mutter wandte sich vom Aufzug ab und zu ihr um, wobei sie theatralisch die Hand aufs Herz legte. In Momenten wie diesen erinnerte ihre Mutter sie sehr an Millie.
«Liebling, ich komme direkt aus Rio. Wie geht es dir?»
Cara verzog das Gesicht. «Liebling»!
«Gut.» Sie räusperte sich, machte aber keinerlei Anstalten, ihre Mutter in die Arme zu schließen.
«Ach, ist das schön, dich zu sehen!», sagte Kitty und vergaß ihren vornehmen Akzent plötzlich ganz. Sie breitete die Arme aus, und da Cara keinen Zentimeter auf sie zuging, schloss die ältere Frau sie in eine etwas steife Umarmung.
«Geht es dir wirklich gut?», fragte Kitty.
«Hab ich doch gesagt. Unsere Sorge sollte jetzt eher Lena gelten.» Ihr ging es wunderbar, selbst wenn ihr Magen sich gerade irgendwie verkrampfte. «Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?», fragte sie barscher als beabsichtigt.
«In Brasilien.»
«Lena liegt seit über zwei Wochen hier.»
«Ich hab es aber erst vor vierundzwanzig Stunden erfahren. Hortense hat es von Ade gehört. Gerade wollte ich abreisen und weiterfahren nach … na, ist ja egal … jedenfalls bin ich jetzt hier und möchte meine Tochter sehen.»
Inzwischen waren sie in Lenas Krankenzimmer angekommen. Cara deutete auf die Tür, Kitty öffnete sie vorsichtig, und Cara folgte ihr langsam. Keine schlechte Idee, denn so konnte Cara ihre Mutter auffangen, als sie dem frisch geputzten Krankenhausboden entgegenstürzte.
«Bist du okay?
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