Bis du erwachst
sagte sie wie üblich. «AlsErstes könntest du mal die ganzen Stapel Altpapier hier rauswerfen. Du bist wie Mum, du hortest die Sachen.»
«Und vielleicht ein bisschen wie du?»
«Ja, schon gut.»
Das Wasser hatte gerade gekocht, als Charlotte mit verwirrter Miene in die Küche geschlendert kam. «Was machst du denn da?»
«Ich koche uns einen Tee.»
«Im Ernst? Da habe ich in Millionen Jahren einmal frei, und du willst, dass wir hierbleiben und Tee trinken? Wir gehen aus!»
«Aber es ist neun Uhr vorbei, und ich muss morgen arbeiten!»
«Wie alt bist du, neunzig? Komm schon, auf einen Drink, ja? Bitte! Wir gehen in irgendein Lokal in der Nähe, in East Dulwich. Da ist es ziemlich schick. Komm schon!», lockte sie und schob ihn beinahe gewaltsam aus der Tür.
Sie einigten sich auf eine überteuerte Bar, in die er allein nie gegangen wäre. Die Sitznischen waren mit glitzernden Musselinvorhängen abgetrennt, und von der Decke hingen Kristalllüster. Für Michaels Geschmack war es hier viel zu nobel, aber Charlotte zuliebe versuchte er, Begeisterung aufzubringen.
Er lehnte sich an einen Barhocker, als er die Getränke bestellte. Einen Mojito (für ihn) und ein Bier für Charlotte. Einer der Vorteile, wenn man auf Abstand zu seinen Freunden ging, war der, dass man sich nicht veräppeln lassen musste, wenn man sich einen Cocktail bestellte. Ja, hin und wieder trank er auch ganz gern ein Bier, aber der frische Geschmack eines Mojito (wenn er gut gemixt war) war einfach unschlagbar.
«Du Mädchen!», spöttelte Charlotte dann trotzdem und nahm einen Schluck Bier.
Sie redeten eine ganze Weile über die Kinder (und dabei sollte Charlotte an diesem Abend doch frei haben!), und dann wollte er ihr von dem Anruf vorhin erzählen. Michael bestand darauf, die Getränke zu bezahlen, merkte, dass er nicht genügend Bargeld hatte, und begann nach der Kreditkarte zu suchen. Als er der Barfrau die Karte reichte, lugte darunter eine orangefarbene Visitenkarte hervor.
Charlotte schlief in dieser Nacht in seinem Bett. Als er auf dem Sofa lag, zog er die orangefarbene Karte heraus und betrachtete sie. Er starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.
Nur einen Anruf entfernt,
stand da in einer computergenerierten Kinderschrift. Auf der anderen Seite war das gedruckte Kidzline-Logo zu sehen.
11
Ein paar Wochen davor …
Er war enttäuscht, als sich auf den Platz, auf dem die junge Frau immer saß, ein dicker Kerl setzte, der sich im Ohr herumbohrte. Widerstrebend ging er die Treppe hinauf, um sich auf seinen üblichen Platz im hinteren Teil des Busses zu setzen, in der Nähe der nervigen Schulkinder und ihrer blechernen Handyklingeltöne. Aber da saß schon jemand.
Aber dann sah er die üppigen Ringellocken mit den hellen Strähnchen und die riesige Mary-Poppins-Tasche. Ihre war aus glänzendem blauem Lackleder, und an einem Riemen baumelten gelbe Perlen. Als er neben ihr Platz nahm, tauchte ihr Gesicht aus der Tasche auf. Von ihren Ohren hingen zwei dünne weiße Kabel. Sie sang (sehr schräg) zu der Musik mit, die sie gerade hörte.
Es war die junge Frau mit den grünen Augen und dem wunderbaren Lächeln. Einfach a-tem-be-raubend.
«Entschuldigen Sie den Krach», sagte sie freundlich
Er wollte eigentlich nicht wie ein alter Knacker klingen, konnte aber nicht anders. «Nein … schon gut …», stammelte er.
«Lena», sagte sie rasch. «Ich heiße Lena.»
Sie nahm ihren winzigen rosa MP 3-Player heraus und schaltete ihn aus.
«Hallo Lena. Ich heiße Michael.» Er klang wie ein Vollidiot, das war ihm klar.
«Tut mir leid, wenn ich ein bisschen laut geworden bin. Ich mag diesen Song so gern.»
«Welchen denn?», fragte er. Er musste sich Mühe geben, nicht zu sehr in ihre grünen Augen zu starren.
«Why don’t we fall in love?»
«Wie?», fragte er verwirrt und wurde rot.
«So heißt der Song», erwiderte sie lachend.
Er kam sich ziemlich dumm vor. «Na ja, immerhin war es nicht so laut wie die dahinten», sagte er und nickte in Richtung der Schulkinder.
«Die toben sich nur aus.»
«Das ist wohl wahr …»
«Normalerweise sitze ich unten, ich hab Sie schon recht oft in diesen Bus steigen sehen.» Sie wirkte verlegen, was ihm ein Lächeln entlockte.
«Lena ist ein ungewöhnlicher Name», sagte er, um die Spannung zu lösen.
«Nach Lena Horne, der Sängerin.»
«Ach ja. Ich habe von ihr gehört. Tolle Frau.» Das war geschwindelt. Er hatte noch nie etwas von ihr gehört.
«Allerdings.»
Und
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