Bis du erwachst
hatte.
«Ach, ich wusste gar nicht, dass sie Kindern geholfen hat. Wie schön.» Schwester Gratten betrachtete das Klemmbrett am Fußende von Lenas Bett. «Vielleicht sollten Sie nur über nette Dinge reden. Diese Party war eine gute Idee, das muss ich zugeben.»
Niedergeschlagen verließ Cara Lenas Zimmer. Sie hätte sich so gern mit Lena ausgesprochen, sie war immer diejenige gewesen, zu der sie mit ihren Problemen gegangen war, und nun war das nicht mehr möglich.
Eine halbe Stunde später kam Millie ins Fen Lane, direkt nach ihrem Frühdienst im A&R. Cara war nicht mehr so streng mit der «Lena-Wache». Solange tagsüber jemand bei ihr war, schimpfte sie nicht. Millie war sich nicht sicher, ob sie erleichtert oder traurig über Caras entspannte Haltung sein sollte. Sie mochte gar nicht daran denken, dass das alles plötzlich normal werden würde. Sie musste einfach daran glauben, dass Lena bald wieder aufwachen würde.
Sie hatte erst ein paar Augenblicke an Lenas Bett gesessen, als sie an der Tür eine Gestalt mit Baseballkappe entdeckte, die durch den Türspalt linste. Es handelte sich um einen jungen Mann, noch im Teenageralter, und er trug ein riesiges sackartiges Sweatshirt und Jeans.
«Kann ich dir helfen?», fragte Millie schärfer als beabsichtigt. Sie hatte nicht schroff klingen wollen, aber es interessiertes sie schon, was dieser merkwürdige Junge hier zu suchen hatte. Sie stand auf und ging zur Tür, doch in diesem Augenblick drehte er sich um und lief den Flur hinunter, immer schneller, als sie ihm nach draußen folgte. Sie sah noch, wie er ins Treppenhaus rannte, und dann war er verschwunden.
Was für ein seltsamer Junge! Warum war er davongerannt? Vielleicht hatte er sich im Zimmer geirrt.
Vielleicht war er aber auch einer dieser Gelegenheitsdiebe. Der Junge sah zwar nicht so aus, als hätte er es auf unbewachte Handtaschen abgesehen. Trotzdem konnte es nicht schaden, Schwester Gratten Bescheid zu geben.
Nur für alle Fälle.
Michael hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Er trug neue Kleider, und er hatte sich das Haar schneiden lassen.So gut hatte er sich schon seit Monaten nicht mehr gefühlt. Seine Besuche bei Lena hatten ihn mit neuen Lebenskräften erfüllt. Auch wenn sie im Tiefschlaf lag – er fühlte sich lebendig und tatkräftig wie nie zuvor. Er erzählte Charlotte davon.
«Du komischer Kauz!»
«Vielen Dank, Charl!»
«Nein, ich meine das doch nicht so. Im Ernst, was mit dir auch los ist – ich finde es toll. Deinen neuen Look finde ich übrigens auch toll. Die kurzen Haare, die coole Lederjacke.»
«Wirkt mein Kopf dadurch nicht zu groß?»
«Nein, das hätte ich dich auf meine liebevolle schwesterliche Art schon wissen lassen. Eigentlich betont es eher deine tollen buschigen Augenbrauen und die Mädchenwimpern.»
«Na, super», versetzte er trocken.
«Bis jetzt war mir gar nicht klar, was für ein toller Typ mein Bruder ist! Vielleicht sollte ich dich meiner Freundin Jeanette vorstellen.»
«Nein, danke», erwiderte er rasch.
«Nur so eine Idee …»
Seine Stimme brach. «Allein sie so daliegen zu sehen, Charl … das lässt einen schon nachdenklich werden.»
«Gut, dass dich wenigstens etwas zum Nachdenken bringt.»
«Ich meine es ernst. Sie ist noch jung, etwa in meinem Alter. Sie hätte noch so viel vor sich, noch so viel zu tun – aber sie kann einfach nicht, verstehst du?»
George kam ins Zimmer gelaufen.
«Ich dachte, ich hätte dich auf die Treppe geschickt, junger Mann?», tadelte Charlotte. George schob die Unterlippe vor und rannte den Flur hinunter. Und tatsächlich entdeckteMichael kurz darauf seinen Neffen, wie er unten auf der Treppe hockte.
«Der arme Kerl.»
«Es funktioniert!», protestierte sie. «Und jetzt zurück zu dir und dieser Frau.»
«Im einen Moment ist ihr Leben voller Möglichkeiten, und im nächsten fällt sie die Treppe hinunter und ist weg.»
«Nicht ganz. Sie lebt doch noch, oder?»
«Ja, das schon, aber wir wissen nicht, ob sie tatsächlich durchkommt.»
«Wir?»
«Ihre Mutter und ihre Schwestern.»
«Du und ihre Familie, ihr seid anscheinend schon dicke Freunde geworden. Muss ich mir Sorgen machen?»
«Das sind tolle Leute, Charl. Ein bisschen verrückt, aber wunderbar. Kitty ist fünfundsechzig und sieht aus, als ginge sie hart auf die siebzehn zu. Millie ist süß. Ein wenig unsicher, aber sie hat ein gutes Herz. Dann ist da Cara, der man besser nicht in die Quere kommen sollte. Mich erinnert sie
Weitere Kostenlose Bücher