Bis du stirbst: Thriller (German Edition)
dem Kleiderladen an der Ecke arbeitete. Sie hat ihm Union-Jack-Unterwäsche zum Geburtstag geschenkt und gesagt, sie wolle die Flagge runterholen. Wie hatte sie noch geheißen? Stacy.
Er biegt in die Broadwick Street ein. Erinnert sich daran, wie seine Mutter ihn hierhergebracht hat, um ihm orthopädische Einlagen anpassen zu lassen. Dann kommt ihm plötzlich eine andere Erinnerung. Ihr Begräbnis. Der düstere Dezemberhimmel, als stiege Dunkelheit aus dem Grab empor. Die Trauernden in Mänteln, schwarzen Anzügen, dunklen Strümpfen, mit Schirmen in der Hand: die Freundinnen seiner Mutter, wie sie Nadia umringten. Das Krematorium war mit einem Baugerüst eingekleidet; es sah aus, als würde es eher abgerissen als renoviert werden. Sami wunderte sich, warum es drinnen so kalt war. Die hatten doch sicher eine Heizung hier.
Der Priester sagte ein paar Worte, die klangen, als habe er Samis Mutter gekannt, was unwahrscheinlich war, da sie, soweit sich Sami erinnern konnte, nie einen Fuß in eine Kirche gesetzt hatte.
Als der Sarg verschwand, brach Nadia zusammen und schluchzte. Sami wollte sie aufheben. Sie wegtragen. Den Schmerz wegwischen. Stattdessen hielt er sie nur und sagte nichts. Die Stille war so zerbrechlich, es kam ihm vor, als könnte sie splittern.
Sami weinte nicht. Weinen war etwas, das er vor Jahren aufgegeben hatte. Er musste für Nadia stark sein. Er war nicht an der Reihe, sich seiner Trauer hinzugeben.
Er ist in der Berwick Street und dann in der Peter Street, wo die Sexshops sich als Buchläden verkleiden und die Stripclubs als Nachtclubs. Es gibt »Life Nude Shows«, Peeps hows, Tätowierungsstudios und Kellerkinos, die Wonnen bieten wie »Noch mehr Beichten eines Oberstufen-Mädchens«.
Prostituierte haben Telefonhäuschen mit glänzenden Visitenkarten beklebt. Mit ihrer knappen Unterwäsche und dem Komm-her-Lächeln haben sie ungefähr so viel Sexappeal wie eine Luftmatratze.
Vielleicht sollte Sami sich ein Mädchen angeln und sich ein paar Stunden verstecken. Sie würde sich viertelstündlich bezahlen lassen. Was würde das kosten?
Er schnauft jetzt. Seine Beine werden müde, und der Rucksack fühlt sich schwer an. Er trägt acht Kilo Kokain und eine halbautomatische Waffe mit sich herum. Dafür kriegt man ungefähr zwölf Jahre Knast oder aber Zehntausend pro Kilo, je nachdem, ob man dazu neigt, das Glas als halb leer oder halb voll zu betrachten. Die Explosion in der U-Bahn ist etwas anderes; eine völlig andere Liga. Dafür gibt es lebenslänglich. Und der Schlüssel wird weggeworfen.
Er ist auf dem Leicester Square, gegenüber vom Odeon. Ein Straßenmusikant tanzt auf Stelzen, er trägt ein Clownskostüm. Ein anderer ist als Cowboy verkleidet, bronzefarben angemalt, und posiert als Revolverheld, bereit zu ziehen.
Vier Bullen stehen dicht an einer Statue. Zwei sprechen mit Touristen, die anderen scheinen nach jemandem zu suchen. Sami stellt sich in die Schlange, die auf herabgesetzte Eintrittskarten wartet. Kopf runter. Versuchen, sich unsichtbar zu machen.
Dann erinnert er sich an eine Bar in der Lisle Street, den Crooked Surgeon. Das ist weniger als hundert Meter entfernt. Da gibt es bestimmt ein Telefon. Er kann Murphy anrufen.
Er tritt aus der Schlange, duckt sich in Richtung Leicester Place und drückt die Tür zur Bar auf. Ein Dutzend Leute steht am Tresen, die Gesichter zum Fernseher erhoben. Vielleicht läuft ein Spiel. Sami stellt den Rucksack zu seinen Füßen ab. Er schwitzt. Ist außer Atem. Dann sieht er zum Bildschirm hoch und sieht Feuerwehrautos, Krankenwagen, Sanitäter und Leute auf Bahren.
Niemand nimmt Notiz von Sami. Sie interessieren sich nur für den Bombenanschlag.
»Haben Sie ein Telefon?«, fragt er den Barmann.
»Ziehen Sie eine Nummer«, antwortet der, ohne seine Augen vom Bildschirm abzuwenden.
Er zeigt darauf. Drei Leute warten darauf, das Telefon zu benutzen, das unter die Treppe gezwängt ist, neben einem Flipperautomaten. Die Frau hinten in der Schlange lächelt Sami an. Sie hat Heftpflaster an ihren Fersen und zieht eines dieser Rollköfferchen hinter sich her, wie Stewardessen sie benutzen.
»Wollen Sie was trinken?«, fragt ihn der Barmann.
Sami bestellt ein Bier. Trinkt das Glas in einem Zug aus. Als er das Glas senkt, entdeckt er sich selbst im Spiegel hinter dem Tresen. Den Großteil des Rußes hat er sich aus dem Gesicht gerieben, aber er hat immer noch Putz und Glas in den Haaren.
»Waren Sie bei dem Anschlag?«, fragt der
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