Bis einer stirbt
sagte Marlena, »aber doch manches mit Aussagewert. Vor ihrer Flucht haben sie zwar noch aufgeräumt, aber glücklicherweise nicht gerade gründlich. Die hinterlassenen Spuren könnten auf verschiedene Arten von Verbrechen hindeuten.«
»Zum Beispiel?«
»Wir haben eine Brieftasche gefunden, die Beute von Taschendieben gewesen ist. Anderes sieht eher nach Einbruch aus, wie zum Beispiel ein paar Granatsteinchen, die wahrscheinlich aus einem Schmuckstück gefallen sind. Solchen Schmuck tragen oft ältere Damen. In letzter Zeit gab es mehrere Einbrüche in Seniorenwohnungen. Und last, but not least lassen sich auch die Spuren der Tankstellenüberfälle bis hierher zurückverfolgen.«
»Ganz schön vielseitig«, sagte Nils.
»Allerdings.« Marlena grinste bitter. »Dahinter steckt eine straffe Organisation. Sonst wären sie schon längst aufgeflogen. Sie machen nicht viele Fehler.«
»Wurden Fingerabdrücke gefunden?« Die gerösteten Brotscheiben flogen mindestens zehn Zentimeter hoch aus dem Toaster und plumpsten dann unspektakulär zurück in die Schlitze.
»Davon wimmelt es nur so«, sagte Marlena.
»Und?«, lauerte Nils. »Nichts Brauchbares dabei?«
Wie einen groÃen Schneeball knetete er das Handtuch.
»Bisher nicht«, erklärte Marlena konzentriert. »Kann auch noch dauern. Gerade die groÃe Anzahl der Abdrücke macht es etwas unübersichtlich und schwierig.«
Vielleicht ganz gut so, dachte ich und betete: Lass Pit wenigstens mit den Morden nichts zu tun haben! Bitte!
»Wie kommt es eigentlich«, fragte Marlena Nils, »dass du dich plötzlich so sehr für meine Arbeit interessierst?«
Mit leisem Lächeln wartete sie ab, während er sich zum zweiten Mal Zucker in den Kaffee schüttete.
»Das hast du doch immer gewollt, oder?«, fragte er schlieÃlich zurück. »Passt es dir jetzt nicht mehr?«
»Doch«, sagte sie. »Ich freu mich. Ich dachte nur, dass es vielleicht einen besonderen Grund dafür gibt.« Mit einem ironischen Lächeln sah sie mich an.
Als er an Klara denkt, fällt es ihm langsam wieder ein. Nach und nach kehren die Bilder in seinen Kopf zurück. Zunächst nur als Puzzleteile, die keinen richtigen Sinn ergeben. Klara, da ist also Klara. Mehr ein Gedanke an sie als ein wirkliches Bild. Der Umriss eines Bildes vielleicht, wenn auch greifbar nah.
Dann sieht er sein Handy vor sich. Es kommt ihm vor, als sei es das Letzte gewesen, was er drauÃen vor Augen hatte.
Aber was ist eigentlich passiert, verdammt? Wie ein plötzlich abgeschnittener Faden enden die Erinnerungen.
Er fühlt sich wie aus einer Betäubung erwacht. Wurde er niedergeschlagen? Aber dann müsste er doch eine Verletzung am Kopf haben: eine Beule, eine Wunde. Aber auÃer einem von innen kommenden, dumpfen Kopfschmerz und dem lädierten, schmerzenden Knie spürt er nichts.
War er betrunken? Der Kopfschmerz würde dazu passen. Das Gefühl kennt er, obwohl er so jung ist. Aber nein, ausgeschlossen. Auch andere Drogen hat er nicht genommen. Das hat er noch nie gemacht, obwohl sie ihn immer wieder dazu überreden wollen. Vor allem Nina, die steht auf das Zeug. Aber auch wenn er auf Nina steht: Davon will er nichts wissen. Er hat auch so schon genug Probleme.
Klara. Immer wieder Klara. Warum ist der Gedanke an sie so stark? Und das Handy. Dann ist da plötzlich ein weiÃer Fleck. Einer, der immer gröÃer wird und in dem er versinkt. Wellen, die über ihm zusammenschlagen. Aber die Wellen sind nicht aus Wasser.
Er versteht die Bilder in seinem Kopf noch nicht. Aber manchmal hat er das Gefühl, kurz davor zu sein.
Klara. Das Handy. Hat er nicht mit Klara telefoniert? Natürlich, das ist es! Die Verbindung war schlecht, sie hat ihn kaum verstanden. Er war beim alten kleinen Hafen. Das Gespräch war zu Ende. Er stand drauÃen und blickte auf die braune, ruhige Wasserfläche. Ein modriger Geruch. Er hatte Angst, sehr groÃe Angst. Und dann kam der weiÃe Fleck auf ihn zu und wurde schnell so groÃ, dass er ihn verschluckte. Die Wellen schlugen über seinem Kopf zusammen. Das war unmittelbar, bevor der Faden riss.
14
»Soll ich euch bei der Schule absetzen?«, fragte Marlena. Wir befanden uns im Treppenhaus auf dem Weg nach unten.
»Nicht nötig«, sagte Nils schnell, »wir gehen lieber zu FuÃ. Wir haben genug Zeit. Und da es
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