Bis einer stirbt
stammte. Straßenbeleuchtung gab es damals ja auch noch nicht. Trotz Taschenlampe musste ich mich höllisch konzentrieren, um mir nicht in einem der fünf Millionen Schlaglöcher die Füße zu brechen.
Rechts von uns zogen sich die Überreste eines alten, flachen Deiches hin, der schon lange nicht mehr gebraucht wurde, weil das Meer schon seit Jahren viel weiter zurückgedrängt worden war. Dahinter lugten anfangs noch die geduckten Dächer ein paar armseliger Wohnhäuschen hervor. Dann kam nichts mehr.
Links breitete sich zwischen Weg und Flusslauf ein unwegsames, dicht bewachsenes Gelände aus. Man konnte das Wasser riechen, aber nicht sehen.
»Irgendwo muss hier ein alter Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg sein«, meinte Nils. »In dem haben wir als Kinder oft gespielt. Und gleich dahinter kommt dann die Werft.«
Noch immer kam seine Sicherheit mir nur gespielt vor. Aber tatsächlich: Schon bald darauf konnte ich im dichten Gestrüpp links von uns ein großes, quaderförmiges Monstrum vor dem dunkelgrauen Himmel ausmachen. Ein erster Hauch Dämmerung setzte ein.
»Voilà, Madame: der Bunker.« Nils war spürbar erleichtert, dass er richtig gelegen hatte, und ließ den Schein seiner Taschenlampe die tristen Wände rauf und runter wandern. »In spätestens zwei Minuten sind wir bei der Werft.«
Auf dem letzten Stück Weg schlug mir ein zurücksausender Zweig ins Gesicht und verpasste mir einen schmerzhaften Kratzer.
»Verdammt!«, rief ich gereizt. »Zu dieser blöden Werft muss es doch einen richtigen Weg geben.«
»Den gab es mal«, meinte Nils. »Ich glaub sogar, ungefähr hier.«
Als ich schon kaum noch damit rechnete, standen wir plötzlich vor den vergammelten Brettern eines alten braunen Holzschuppens. Mit einem Mal war er einfach da, wie aus dem Boden geschossen.
»Bitte sehr«, stellte Nils mir die Bretterbude vor. »Der Bootsschuppen der Schröder-Werft.«
Auf der anderen Seite des Schuppens, der Wasserseite also, gab es ein großes Tor, das nur noch notdürftig in den Angeln hing. Es war mit einem großen Holzriegel versperrt. Die Dämmerung war inzwischen in ein intensives gelbes Licht übergegangen, das die Taschenlampe zunächst überflüssig machte. Den Riegel entfernten wir problemlos. Quietschend öffnete sich der linke Flügel nun von alleine, während der rechte mir fast auf den Kopf gefallen wäre. Das ganze Tor war vollkommen morsch. »Eine Reparatur kann man sich hier klemmen«, meinte Nils, als die eine Hälfte im verfilzten Gras lag. Er leuchtete mit der Taschenlampe ins Innere des Schuppens. Nur an manchen, etwas ärger lädierten Stellen fielen kleine Lichtbündel herein. Hinten in der Ecke gab es im Dach ein größeres Loch, hier war es am hellsten.
Der ganze Schuppen bestand aus einem einzigen großen Raum. Schweigend tasteten wir uns voran. Alles hier schien seit Jahren unberührt und meine Anspannung flaute etwas ab. Ein paar Sekunden verlor ich Nils sogar aus den Augen, ohne sofort in Panik zu geraten. Ein paar Werkbänke mit ein wenig verrottetem Werkzeug, ein zerfallenes altes Ruderboot und ähnlicher Krimskrams war alles, was wir entdeckten.
Von Pit keine Spur, gar nichts. Die Enttäuschung fraß ein kleines, extrem fieses Loch mitten in mich rein.
»Hier kann er nicht gewesen sein«, meinte ich ernüchtert. »Sonst wäre ihm das Tor auf den Kopf gefallen und nicht mir.« Ich setzte mich auf eine der Werkbänke.
»An der Seitenwand dahinten«, meinte Nils, »gibt es eine Tür, die nicht abgeschlossen ist. Theoretisch könnte er natürlich auch da reingekommen sein. Aber hast du denn gedacht, dass er schon hier ist?«
»Ich hab’s gehofft. Irgendwo muss er ja schließlich auch gepennt haben.«
»Danach sieht es hier allerdings nicht aus.« Gedankenverloren spielte Nils mit einem alten, verrosteten Schraubstock herum. »Was machen wir jetzt?«
»Warten, was sonst? Der Vormittag ist lang.«
»Und hier ist es viel zu kalt«, meinte Nils. »Findest du nicht?« Mit einem Satz schwang er sich neben mich. Erstaunlicherweise war das alte Ding noch stabil genug, um uns beide auszuhalten.
Nils lächelte nicht, aber er rückte ein Stück näher an mich heran. Ich hatte keine Ahnung, was das jetzt wieder sollte. Andererseits wehrte ich mich auch nicht gerade, als er den Arm um meine Schulter legte. Und dann war sein Gesicht auf einmal ganz nah an meinem. Er roch wie Kaffee von weit weg. Seine Haut spürte ich schon vor der Berührung, ganz komisch. Dann wurden unsere Lippen zu
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