Bis einer stirbt
durchfährt ihn ein bohrender Schmerz. Unwillkürlich schreit er auf. Es ist irgendetwas in seinem linken Knie. Er zieht sich an der Wand hoch, lehnt sich mit dem Rücken dagegen, er stöhnt laut, der Schmerz lässt nicht nach. Er spürt jetzt nicht mal mehr die Kälte.
Er tastet nach dem Knie. Er fühlt etwas, einen Gegenstand, hart, eher klein, der in seinem Bein steckt. Es ist ein Nagel.Verdammt, er hat sich einen blöden Nagel ins Bein gerammt! Direkt neben der Kniescheibe. In plötzlicher Panik reißt er ihn heraus und schleudert ihn weit von sich. Er hört den Nagel an die gegenüberliegende Wand fliegen und dann mit einem leisen Klirren zu Boden fallen. Der Raum ist nicht halb so groß, wie er geglaubt hat.
Plötzlich spürt er, dass die Hose um sein Knie zuerst feucht, dann nass wird. Es ist Blut, das aus der Wunde sickert. Es hört nicht auf. Er muss die Blutung stoppen. Er lässt sich auf den Boden sinken, den Rücken gegen die Wand gelehnt, bleibt er sitzen. Panisch reißt er sich Jacke, Pullover und T-Shirt vom Leib, schlingt sofort das Shirt um seinen Oberschenkel, zieht daran und knotet es zu, so fest es geht. Das hat er in irgendeinem Film gesehen.
In seiner Angst spürt er plötzlich nicht mal mehr den beißenden Schmerz. Anscheinend hat er das Richtige getan, denn das Bluten hört auf. Tief erleichtert lehnt er sich zurück. Er spürt, dass sich auf seiner Stirn Schweiß gebildet hat – trotz der feuchten Kälte in diesem Raum, die immer unerträglicher wird. Hastig streift er sich Pullover und Jacke wieder über.
Ihm wird klar, dass er noch keinen einzigen Schritt weitergekommen ist, seit er in dieser totalen Finsternis zu sich kam. Ganz im Gegenteil, er ist jetzt auch noch verletzt. Er weiß nur, dass er sich in einem kleinen, niedrigen Raum befindet und dass Zeit vergangen ist. Auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hat, wie viel. Eine Uhr hat er nicht. Auch kein Handy. Keine Ahnung, wo das blöde Ding abgeblieben ist.
In seiner Hoffnungslosigkeit beginnt er nun doch zu weinen. Und er denkt an Klara, so intensiv wie noch nie in seinem Leben. Wenn sie jetzt hier wäre, würde es irgendwie weitergehen. Das weiß er ganz genau. Sie findet immer einen Weg, selbst in der verzwicktesten Situation. Aber Klara ist nicht hier. Er ruft ihren Namen, brüllt ihn, aber der Ruf hallt nur ungehört von den Wänden seines winzigen Gefängnisses wider.
13
Beim Frühstück am nächsten Morgen sah ich Marlena zum ersten Mal seit ein paar Tagen wieder. Nach dem zweiten Mord verdoppelte sich ihr Pensum und sie arbeitete täglich bis spät in die Nacht.
»Deine Mutter hat gestern bei mir angerufen«, sagte sie. Wir beide saßen alleine am Tisch. Nils war noch duschen. Sie selbst sah an diesem Morgen zwar müde, aber trotzdem noch gut aus, obwohl sie ungeschminkt war. Keine Ahnung, wie sie das hinkriegte. Mir war inzwischen klar, dass ich sie sehr mochte. Vor allem die Art, wie sie mit Situationen und Menschen umging. Ein bisschen beneidete ich Nils um so eine Mutter.
»Sie hat mich zu sich eingeladen«, fuhr Marlena fort.
»Und?«, fragte ich. »Gehst du hin?«
Ich hatte so ein Gefühl, als müsste ich mindestens zehn Jahre älter aussehen als Marlena. Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugetan. Ununterbrochen hatte ich an Pit gedacht. Ich machte mir solche Sorgen um ihn! Meine eigenen Probleme erschienen mir dagegen geradezu lächerlich.
»Wenn du mitkommst, ja.« Sie beobachtete mich aufmerksam über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg.
»Meine Mutter glaubt, es hätte keinen Sinn, mit meinem Vater zu reden.«
»Sie will es jetzt aber versuchen.« Marlena verteilte mit einem Messer etwas Marmelade auf ihrem Toast. »Natürlich nach unseren Regeln.«
»Da hält er sich doch sowieso nicht dran.« Ich merkte, dass ich mich fast schon anhörte wie meine Mutter, was ich eigentlich nicht wollte.
»Sie will es versuchen. Findest du nicht, wir sollten das Gleiche tun?«
»Wenn er getrunken hat, verschwinden wir sofort wieder?«, vergewisserte ich mich.
»Auf der Stelle«, sagte sie bestimmt. »Ich setze keinen Fuß in die Wohnung, wenn er getrunken hat. Das ist die Regel.«
Ich war unentschlossen. Aber Marlena lächelte mich so an, dass ich schließlich zurücklächelte, und sagte:
»Okay. Versuchen wir es.«
Sie hielt noch einmal inne. »Übrigens war deine Mutter sehr besorgt: Pit hat sich noch nicht wieder gemeldet. Es gibt keine Spur von ihm.«
Mir wurde heiß und kalt im selben
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