Bis einer stirbt
Augen. Er hatte irgendwas vor.
»Eigentlich wollen wir auch gar nicht direkt zu Fred«, sagte er, »sondern zu ihrer Schwester hier.« Er deutete knapp auf mich.
»Die Ähnlichkeit ist mir gleich aufgefallen«, meinte die Frau. »Nina ist also deine Schwester?« Sie betrachtete mich eingehend. Das Blau ihrer Augen erschien mir undurchsichtig. Was mochte sie denken? Ich nickte unsicher.
Nils reagierte geistesgegenwärtig. »Genau«, entgegnete er. »Zu Nina. Wir haben eine Nachricht von ihren Eltern.«
»Soll sie nach Hause kommen, ja?«, fragte sie und fing an Gläser zu spülen.
»Sie wissen also«, fragte Nils vorsichtig, »dass sie …«
»Gesagt hat sie es mir nicht«, meinte die Frau. »Aber ich merke sofort, wenn ein Mädchen von zu Hause abgehauen ist. Dafür hab ich einen Riecher. Ich bin früher selbst ein paarmal … aber egal.«
Prüfend hielt sie ein Glas gegen das Licht, das in schrägen Strahlen von außen einfiel.
»Du zum Beispiel«, sagte sie zu mir, »würdest nie abhauen.«
»Und warum nicht?«
»Du hast so was … Klares.« Zufrieden, dass ihr dieses Wort eingefallen war, stellte sie das Glas in den Schrank. Ihre Menschenkenntnis war großartig.
»Also, was ist jetzt?« Nils platzte fast vor Ungeduld. »Wo ist Nina? Es ist sehr dringend.«
»Keine Ahnung«, sagte sie endlich. »Aber sie taucht hier auch nur ab und zu auf.«
Plötzlich war da so ein kleines Zucken um ihren Mund. Ich wurde skeptisch.
»Sie hat einen ziemlich guten Draht zu Fred. Da hat sie es nicht nötig, viel zu arbeiten. Wenn ihr versteht, was ich meine.« Sie sah mich streng an. »Obwohl sie dafür eigentlich zu jung ist. Fred ist ein Schlitzohr. Wenn ich es mal nett ausdrücken will.«
»Und wenn Sie es unnett ausdrücken?«, fragte Nils.
Sie grinste hämisch und flüsterte plötzlich, obwohl uns niemand hören konnte: »Früher nannte man solche Typen Halsabschneider.«
Durch die große Scheibe sahen wir Kommissar Remmers kommen. Er wirkte entschlossen, schien es aber nicht besonders eilig zu haben. Ich handelte spontan. Noch vor einer halben Sekunde hatte ich nicht gewusst, was ich tun würde. Jetzt sprang ich ruckartig vom Barhocker, der krachend umfiel. Die erschrockenen Blicke von Nils und der Blondine spürte ich nur noch im Rücken. Alles Folgende passierte innerhalb weniger Augenblicke.
Ohne mich umzusehen, flitzte ich in den kleinen Flur, von dem die Toiletten abgingen. Im Seitenblick sah ich Remmers zur Tür reinkommen. Ich hörte Nils, der mir folgte.
»Hey!«, rief Blauauge. »Was macht ihr denn da?«
Auch sie folgte uns. Ohne Zögern riss ich die Privat -Tür auf. Dahinter herrschte das absolute Chaos. Die Luft war verbraucht, es stank erbärmlich. Dreckige Gläser und Teller türmten sich auf dem verklebten Tisch, auf dem alten Sofa lagen eine zerwühlte Wolldecke und ein Kissen, ganz sicher beides bis vor Kurzem noch gebraucht. Trübes Funzellicht kam von einer nackten Glühbirne, die über dem Tisch baumelte. Aus einem angrenzenden Raum hörte ich ein Geräusch und rannte hinüber. Nina hockte im Rahmen des kleinen, geöffneten Fensters, unmittelbar vor dem Absprung nach draußen. Irgendwas hatte sie alarmiert, sie wollte abhauen. Erschrocken sah sie mich an, wir beide verharrten eine Sekunde.
Dann sprang sie und war verschwunden. Nils war hinter mir aufgetaucht. Blitzartig erfasste er die Situation. Mit einem Riesensatz folgte er Nina. Dabei riss er das Fenster halb aus den Angeln.
»Hey!«, rief die Blondine. »Spinnt ihr total oder was? Ich ruf die Polizei!«
Mit diesen Worten schob sie sich an mir vorbei zum Fenster und blickte den beiden hilflos hinterher. Dann tauchte Remmers auf der Bildfläche auf. »Was ist hier denn los?«, fragte er verdattert. »Wer ruft mich?«
»Nils verfolgt ein Mädchen, das zur Bande gehört.«
Die Kellnerin hatte anscheinend noch immer große Probleme, die Situation zu erfassen. Remmers schob sie zur Seite und spähte nun auch aus dem Fenster, aber Nils und Nina waren längst außer Sichtweite. Er zückte seine Dienstmarke, hielt sie der Blondine kurz unter die Nase und steckte sie wieder ein. Er wirkte ein bisschen ratlos.
»Kommissar Remmers«, stellte er sich vor. »Wo ist Fred Lohmeier?«
Gleichzeitig wählte er eine in seinem Handy gespeicherte Nummer.
»Ich weiß es nicht«, beteuerte die Blonde weinerlich. »Ich glaube auch nicht, dass er heute noch kommt.«
»Hallo, Marlena«, sagte Remmers ins Telefon, ohne die Frau aus den Augen zu
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