Bis ich bei dir bin
zu sein.
»Wieso benimmt sich Owen, als würde er mich kennen – und du auch, abgesehen von gestern Abend in dem Restaurant?«
Sie sagt nichts und starrt nur weiter zum Fenster hinaus.
»Hör mal, ich bin auch gar nicht mehr sauer«, lüge ich. »Ich will nur den Grund verstehen.«
Endlich dreht sie sich um, und es glänzen Tränen in ihren Augen.
»Du bist mein … bester Freund.«
Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, schließlich hatte ich dieses Mädchen bis vor Kurzem noch nie gesehen. Sie wischt sich übers Gesicht, das wieder ausdruckslos wird, emotionslos, als würde sie sich eine Art kriegerhafte Selbstbeherrschung auferlegen.
»Hör zu, du bist durch das grüne Licht gegangen, richtig?«
»Ja«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Aber was ist das denn nun eigentlich …«
»Hat dich jemand gesehen?«
»Ist das wichtig?«
»Es ist wichtig, Cam – hat dich jemand gesehen?«
»Wen kümmert’s?«
Sie macht ein komisches Geräusch, und zuerst denke ich, sie lacht, aber als sie sich die Haare aus dem Gesicht streicht, merke ich, dass ihre Hand zittert. Ihr Blick ist so ernst, dass ich es kaum ertrage.
» Dieses Fayetteville hat schon einen Cam«, erklärt sie.
Das muss ich erst einmal verdauen, wobei ich auf einmal wieder das seltsame Kribbeln unter der Haut spüre.
»Deshalb … deshalb kannst du nicht einfach … Es wäre schlimm, wenn dich jemand sehen würde.« Das Letzte flüstert sie so leise, dass ich es von ihren Lippen ablesen muss.
Ich denke daran, wie sie bei uns in der Küche stand und hysterisch etwas davon stammelte, dass ihr Haus nicht ihr Haus sei. Dann fällt mir das verrammelte Fenster des Kunstsaals ein und dass das Fenster, das ich heute Abend gesehen habe, völlig unbeschädigt zu sein schien. Ich warte darauf, dass sie blinzelt oder zuckt oder sonst irgendetwas tut. Endlich blinzelt sie.
» Dieses Fayetteville?«, hake ich nach.
Sie zwängt sich an mir vorbei zu ihrem Nachttisch und kramt in der Schublade herum. Mein Blick wandert nach draußen, zu den Häusern in der Genesee Street. Sie sehen aus, wie sie sollten, wie immer. Wie könnte hier etwas anders sein? Nina hat gefunden, was sie sucht, und macht die Schublade wieder zu.
»Das war in diesem Sommer, draußen am See.« Sie gibt mir ein Foto.
Mir rutscht das Herz in die Magengrube.
Das sind wir. Nina und ich, wie wir lachend einen Fisch in die Höhe halten, der fast einen Meter lang ist. Sie hält das eine Ende und ich das andere, während unsere freien Arme umeinandergelegt sind. Ich führe das Bild dichter an meine Augen und suche nach Anzeichen für eine Photoshop-Bearbeitung, kann aber keine feststellen. Das Ufer im Hintergrund kenne ich gut, und die Kiefern auf dieser Anhöhe könnte ich mit geschlossenen Augen zeichnen. Wir haben ein Boot dort liegen – hatten es dort liegen, bevor Dad uns verließ –, und ich entdecke seinen blau-weißen Bug über Ninas Schulter. Der Anlegesteg erstreckt sich hinter uns. Beinahe kann ich die Wellen hören, die unter den Bohlen herumschwappen.
»Das ist unmöglich«, sage ich und vergesse zu flüstern. »Ich war seit zwei Jahren nicht mehr an dem See. Dad hat das Boot verkauft, als er und meine Mom sich scheiden ließen.«
»Er hat den Verkauf abgesagt, nachdem du ihn angerufen hattest.«
Ich schüttele den Kopf. »Niemals, und außerdem war ich dort immer nur mit meiner …«
»Viv war immer noch deine feste Freundin«, sagt sie sanft. Ich starre sie wortlos an. Sie wird knallrot. »Wie gesagt, du bist mein bester Freund.«
Nina hat jetzt diesen verlegenen Gesichtsausdruck, den alle bekommen, wenn sie in meiner Gegenwart aus Versehen Vivs Namen nennen.
Ich atme tief durch und betrachte das Foto, betrachte mich selbst – kann ich diesen Jungen dort als »ich« bezeichnen? Seine Haare sind kürzer, so wie ich sie immer schneiden ließ, damit der Footballhelm gut saß. Er grinst über beide Wangen wie ein Idiot. Auch Nina lächelt breit.
Ich blinzele verwirrt. »Wie kann das sein?«
»Ich verstehe es auch nicht, aber …«
»Es gibt mich nicht zweimal!«
Sie kneift den Mund zusammen. »Nein«, sagt sie dann, »du bist du … in deiner eigenen Welt.«
Meiner eigenen Welt? Meine Welt …
Alles, was ich weiß, ist, dass ich nach Hause zurückwill, wo Vivs Schrein noch intakt ist und mein Vater kein Boot mehr besitzt. Ich greife nach dem Türknauf.
Nina versperrt mir den Weg. »Was ich dir zu erklären versuche, ist … du kannst
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