Bis ich bei dir bin
Hausnummer. Sechsundzwanzig? Vierundzwanzig? Langsam gehe ich weiter und halte kurz vor Mikes Haus, Nummer 17, inne.
Es sieht genauso aus wie immer. Ich gehe weiter.
Vor Nummer 24 bleibe ich lange stehen. Es unterscheidet sich kaum von den anderen Häusern in der Straße. Zweigeschossig, unscheinbar, dunkel. Ich denke daran, dass Nina gesagt hat, man hätte sie vom Haus ihrer Freundin vertrieben. Ich denke an Vivs nicht mehr vorhandenen Schrein.
Strauchelnd folge ich dem unebenen Gartenpfad zur Vordertür und überlege, was ich tun soll, falls es sich als das falsche Haus herausstellt. Weglaufen? Versuchen, alles zu erklären? Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber jedenfalls entweder zu spät oder zu früh. Kurz vor der vorderen Veranda werde ich auf etwas aufmerksam – ein Licht in einem Fenster von Nummer 26, im Erdgeschoss hinten. Ich blicke auf die dunklen Treppenstufen vor mir, dann wieder zu dem leuchtenden Fenster nebenan. Wenn ich es dort zuerst versuche, hole ich wenigstens niemanden aus dem Bett.
Ich nehme die Abkürzung über die beiden Vorgärten zur Nachbarstür, doch als ich den Daumen auf die Türklingel lege, bekomme ich Zweifel. Was ist, wenn sie doch nicht hier wohnt und ich irgendeine harmlose Familie belästige? Was ist, wenn sie da ist? Wird sie mich erkennen? Oder wieder vorgeben, dass sie mich noch nie gesehen hat? Diesmal kommt sie mir nicht damit durch.
Ein lautes Ding Dong im Haus erschreckt mich, und ich ziehe die Hand weg, mit der ich mich zu fest auf die Klingel gestützt habe.
Weglaufen? Erklären?
Es dauert eine Ewigkeit, bevor ich drinnen jemanden heranschlurfen höre, und dann wird mir klar, wie bescheuert das hier ist. Es muss drei oder vier Uhr morgens sein, und ich klingele bei Fremden an der Tür. Wenn das mein Zuhause wäre, würde ich nicht aufmachen, oder wenn, dann …
Es wird aufgeschlossen.
Schluckend trete ich einen Schritt zurück.
Die Tür öffnet sich einen Spalt weit, und jemand lugt heraus.
Das Außenlicht geht an, ich blinzele in dem hellen Schein. Ein braunes Auge mustert mich, das vor Schreck ganz groß wird, dann höre ich ein Keuchen. Ein Nintendo-Gerät fällt klappernd zu Boden.
»Owen, was machst du denn hier?«, fragt eine Mädchenstimme.
Die Tür schwingt auf, und Nina starrt mich mit offenem Mund an.
»Cam …«
Sie trägt keine Schürze. Sie lacht nicht. Und sie ist nicht grün. Ihre Augen sind groß wie Untertassen. Ein kleiner Junge im Schlafanzug hält die Tür auf. Er ist ungefähr zehn Jahre alt und weiß wie eine Leinwand. Sie wirft einen Blick auf ihn, als hätte sie ihn gerade erst bemerkt, und schlägt mir die Tür vor der Nase zu.
Bis jetzt läuft es schon mal besser als in dem Restaurant.
Ich höre Gemurmel durch die Holztür, und als sie endlich wieder aufgeht, ist Nina allein. Sie macht das Außenlicht aus, sieht prüfend nach rechts und links und winkt mich eilig hinein. Hastig legt sie den Riegel vor und starrt mich an, als hätte ich die Pest oder so was. Ihr Arm schnellt zum Lichtschalter vor, und in der trüb beleuchteten Diele wird es schwarz. Sie hastet an mir vorbei und streift meinen Arm, woraufhin ich zurückzucke – und mir albern vorkomme. Dann zerrt sie an den Spitzengardinen zu beiden Seiten der Haustür, obwohl der Mond so hell durch die Fenster scheint, dass ich nicht verstehe, warum sie sich die Mühe macht.
Anschließend starrt sie mich wieder an, als würde sie ein Problem abwägen. Mich fröstelt, doch ich glaube nicht, dass es an der Kälte liegt. Ich werde die Erinnerung an sie in dem Diner nicht los, an diesen mitleidigen Ausdruck in ihren Augen. Mitleid mit einem Fremden.
»Sag mir, was hier vorgeht«, verlange ich.
»Wie bitte?«
»Was ist das mit diesem grünen Licht? Was bewirkt es? Und wieso hast du in dem Diner so getan, als würdest du mich nicht kennen?«
Sie will etwas erwidern, aber ich schneide ihr das Wort ab.
»Woher wusstest du schon, wie ich heiße, bevor wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Wenn du in Mikes Straße wohnst, wieso gehst du dann nicht auf unsere Schule?« Ich denke an das ausgefranste Band an dem leeren Holzmast. »Und was soll der Scheiß, die Gedenkstätte für meine Freundin zu demontieren?«
Nina blickt kurz zur Treppe und in den dunklen Flur oben und marschiert dann wortlos auf die einzige Lichtquelle im Haus zu – die Küche. Ich folge ihr, sie schließt die Tür hinter mir, und wir stehen in einem gelben Raum. Gelbe Hängeschränke, gelbe
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