Bis ich bei dir bin
jetzt nicht da rausgehen. Du hast mich gestern Abend gesehen, ja? Nur dass ich es nicht war, stimmt’s?«
Ich sehe sie in dieser grünen Kellnerinnenschürze vor mir und wie sie die Nase mit den Sommersprossen krauszieht, wenn sie lächelt. Meine Haut fühlt sich feuchtkalt an.
»Ich weiß nicht …«
Ihre Stimme bebt, als sie fragt: »Wie war sie?«
»Sie sah genauso aus wie du.«
Sie lächelt gezwungen und tritt näher an mich heran. Ich sehe dieselbe Anhäufung von Sommersprossen auf ihrer Nase, nur dass sie sich nicht bewegen. »Und sie hat sich auch so verhalten wie ich?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
»Was war anders?«
Ich überlege kurz. »Sie war irgendwie … fröhlicher. Glaube ich.«
Ihre Miene verdüstert sich. »Siehst du? Du hast den Unterschied bemerkt. Genauso werden alle hier merken, dass du nicht unser Cam bist.«
Ich denke daran, wie ich Nina zum ersten Mal gesehen habe, und frage mich, wie ich wohl auf eine durchsichtige grüne Version von mir selbst reagiert hätte. Schnell stecke ich die Hand in die Hosentasche und berühre Vivs Foto.
»Dann sollte ich wohl schleunigst zurückkehren«, sage ich.
»Ja, sicher, du musst zurück, aber wenn du jetzt gehst, könnte dich jemand hindurchschlüpfen sehen.«
Ich blicke zum Fenster, wo sich die erste Morgenröte am Himmel zeigt. Bis ich wieder an der Schule angekommen bin, wird es heller Tag sein.
»Wenn ich mich beeile …«
»Es ist zu spät.«
Sie verschränkt entschlossen die Arme vor der Brust, was albern ist, denn es wäre ein Leichtes für mich, sie wegzustoßen, egal, ob ich in Form bin oder nicht. Aber an ihrem Argument mit dem Gesehenwerden ist was dran. Ich bin nicht gerade scharf darauf, jemandem zu begegnen, der mich für ihn hält. Ich senke den Blick auf das Foto von uns beiden – von ihnen – und reibe mir das Kinn, nicht sicher, ob ich überhaupt zu einem solchen Strahlen fähig bin. Sicher ist nur, dass ich mich rasieren muss. Ich sehe in Ninas ernstes Gesicht. Wieder fällt mir auf, wie verschieden sie ist, wir beide sind, von unseren anderen … Versionen. Wieso hat sie einen Job und er ein Boot und wir nicht? Wieso ziehen sich ihre Sommersprossen nicht zusammen, wenn sie lächelt? Warum sieht er so verdammt glücklich aus auf diesem Bild?
ZWÖLF
N ina schließt die Tür hinter sich, und ich höre, wie sie nach unten tapst, um ihrem kleinen Bruder Frühstück zu machen. Da niemand zum Reden da ist, stellen sich meine Ohren auf das durch die Wand dringende Geräusch ein. Tante Car hört sich an wie ein ferner Güterzug, aber solange sie vor sich hin rattert, bekommt niemand Schwierigkeiten. Ich schlendere zum Fenster hinüber. Mikes rostroter Toyota steht ein Stück weiter die Straße hinunter vor seinem Elternhaus – nichts Ungewöhnliches zu erkennen dort. Müßig nehme ich einen Stift aus dem Becher und lege ihn schräg auf den leeren Schreibtisch. Keine Ahnung, wie Nina es hier drinnen aushält.
Das Foto liegt mit der Bildseite nach unten auf der Kommode. Ich stelle mir vor, wie ich Dr. Summers die guten Neuigkeiten erzähle: Ich bin vollkommen klar im Kopf – die Welt ist verrückt geworden! Welten? Ich wünschte, ich hätte Physik gewählt oder besser in Mathe aufgepasst oder so. Vorsichtig hebe ich den Rand des Fotos an und beäuge mein anderes Ich. Der Versuch, das alles mit meinem Verstand zu erfassen, verursacht mir Kopfschmerzen.
Ich gehe ein bisschen im Zimmer hin und her, doch die absurde Ordnung erschwert das Herumschnüffeln. Selbst die zerknautschte Stoffpuppe auf dem Bett hat die Arme artig im Schoß gefaltet. Wenigstens steht die Tür des Kleiderschranks einen Spalt offen, also spähe ich hinein. Es riecht nach Zedernholz. Ninas Garderobe, vorwiegend in langweiligen dunklen Farben gehalten, hängt der Länge nach arrangiert auf Bügeln. Dann bemerke ich einen Stapel gerahmter Poster, der gleich neben der Schranktür an der Innenwand lehnt und meine Neugier reizt. Ich klappe das erste zurück, um es mir anzusehen. Es ist ein Filmplakat von Die Nacht der lebenden Toten , der Originalfassung. Als ich die anderen Rahmen herausziehe, stoße ich auf jede Menge Klassiker: Die Grube und das Pendel , Suspiria , Der Exorzist , sogar Carrie . Die habe ich alle gesehen und toll gefunden – obwohl Viv Horrorfilme gehasst hat. Ninas sterile Wände ringsherum und dann diese bunten Filmplakate. Seltsam.
Ich mache den Schrank zu und sehe mir die zwanghaft geraden Reihen im Bücherregal an – die
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