Bis ich bei dir bin
in ihr tränennasses Gesicht. Nach einer Weile geht das Licht in ihrem Zimmer aus, und wir müssen uns wohl damit abfinden zu warten.
Ein Tag ist ein Klacks nach zwei Monaten des Nie-wieder.
An der Straßenecke ist alles ruhig, als ich durch das grüne Licht trete – das wundersamste, schönste, seltsamste Licht der Welt. Ich sehe mich gründlich um, um mich zu vergewissern, wo ich bin. Schließlich bleibt mein Blick bei dem Schrein am Holzmast ruhen, und mich überkommt ein merkwürdiges Gefühl. Ich reiße das Foto mit dem Sonnenuntergang ab, meine Hände zittern, aber als ich über Vivs Gesicht streiche, stellt sich nicht die übliche schreckliche Leere ein. Diese Bilder haben mich zwei Monate lang Tag für Tag daran erinnert, dass ich sie nie wiedersehen werde, und nun brauche ich nur die Augen zu schließen und ihren Duft einzuatmen, der noch an meiner Haut hängt, und alles ist gut.
Ich reiße noch ein weiteres Foto ab, dann eine der Karten, und schließlich gibt es kein Halten mehr. Rote und weiße Bänder verheddern sich in meinen Fingern, die ich lachend herunterrupfe. Ein kleiner Teddybär fällt mitsamt seiner Reißzwecke herunter, was mich regelrecht zum Kichern bringt, ich kann kaum an mich halten. Nichts von diesem Zeug hat noch irgendeine Bedeutung. Als ich mit dem Mast fertig bin, ist er so kahl wie der alte vor dem Unfall, und mir tun die Seiten weh von dem ungewohnten Übermut. Ein Haufen Karten liegt zwischen Kerzen und verwelkten Blumen auf dem Gehweg. Ich raffe den ganzen Kram zusammen, achte darauf, keinen Fetzen Unaufrichtigkeit liegen zu lassen, und trage ihn grinsend über die Straße zu dem Mülleimer beim Bushäuschen.
Die Fotos klemme ich mir unter den Arm, um sie zu behalten. Sie haben mir bisher immer das Gefühl gegeben, total abgeschnitten von Viv zu sein, als wäre sie auf ihnen für alle Zeit eingefroren – ohne mich. Ich dachte, es gäbe nur einen Weg, wie ich sie eventuell jemals wiedersehen könnte. Ich lege den Kopf in den Nacken, blicke in den sternengespickten Himmel und überlege, ob es jemanden oder etwas gibt, dem ich danken sollte. Im gleichen Atemzug frage ich mich, ob ich meinen Dank überhaupt an den richtigen Himmel richten würde.
Abwartend bleibe ich beim Auto meiner Mom in der Einfahrt stehen. Sämtliche Lichter im Haus brennen, obwohl es erst kurz vor sechs an einem Samstagmorgen ist. Dass meine Mutter sich plötzlich wie eine Mutter benimmt, ist genau das, was ich jetzt nicht gebrauchen kann. Ich schüttele den Kopf, schließe die Augen und versetze mich zu unserem Kuss zurück, zu Vivs weichen, warmen Lippen, ihren lebensprühenden Augen. Schon allein an sie zu denken ist wie Musik, die in meinem Innern spielt. Ich erschauere vor freudiger Erregung, doch als ich die Augen wieder öffne, stehe ich immer noch allein neben dem Auto.
Schweren Schrittes steige ich die Stufen zur Haustür hinauf und stecke den Schlüssel ins Schloss.
Drinnen stinkt es nach Zigarettenqualm. Ich lasse die Tür zufallen, um Mom vorzuwarnen, und wappne mich meinerseits, als sie aus der Küche geschossen kommt, übermüdet und wütend.
»Wo warst du?«, fragt sie streng. »Weißt du, wie spät es ist?«
Ich öffne den Mund zu einer Erwiderung, aber meine Kinnlade hängt einfach nur herab. Ist ja nicht so, als wäre ich noch nie zu spät nach Hause gekommen. Neu daran ist, dass sie es mitkriegt beziehungsweise Platz in ihrem Terminplan schafft, um sich darüber aufzuregen. Meine Wange zuckt, denn ich weiß, was als Nächstes kommt – sie wird Gerichtsverhandlung mit mir spielen wollen. Rechtsanwälte quälen ihre Kinder nur zu gern damit.
Die Hände in die Hüften gestemmt baut sie sich vor mir auf. »Ich bin gestern spät nach Hause gekommen, und du warst nicht da. Warum gehst du eigentlich nie an dein Handy?«
Tja, jetzt muss ich wohl meine Verteidigung übernehmen. Ich zerbreche mir den Kopf nach einem guten, wasserdichten Alibi, doch was soll ich sagen? Die Wahrheit ist so fantastisch – und vollkommen unglaublich.
»Mom, es tut mir …«
»Ich wollte gerade deinen Vater anrufen.«
Die Musik in mir bricht ab. Auf keinen Fall darf sie ihn anrufen. Ich dachte, zu mir nach Hause zu gehen, wäre am unauffälligsten, bis ich mich heute Abend wieder zu Viv schleichen kann, aber wenn mein Dad auf den Plan tritt …
»Das brauchst du nicht«, sage ich.
»Camden, wo warst du heute Nacht?«
Ihre Augen sind blutunterlaufen. Ihre Kleider stinken nach Marlboros.
»Seit wann
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