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Bis ich bei dir bin

Bis ich bei dir bin

Titel: Bis ich bei dir bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Hainsworth
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Vergewisserung berühren, zögere jedoch. Die kurzen Locken, die ihr Gesicht statt der langen Mähne einrahmen, erinnern mich daran, dass ich für sie auch anders aussehen muss. Ich denke an den kräftigen, selbstbewusst grinsenden Kerl in dem Jahrbuch und frage mich, ob ich überhaupt noch irgendwelche Ähnlichkeit mit ihm habe. Seit ich nicht mehr spiele, habe ich schätzungsweise fünfzehn Kilo abgenommen, aber es liegt nicht nur am Gewicht und den Muskeln. Er hatte noch etwas anderes an sich. So einen Ausdruck in den Augen, den ich im Spiegel nicht erkennen kann. Er war ganz klar ein Siegertyp, während ich …
    Ich fahre mir nervös mit der Hand durch die Haare und wünschte, ich hätte sie in letzter Zeit mal schneiden lassen. Am Ende hält sie mich doch noch für einen Zombie.
    Vorsichtig trete ich zu ihr unter das Weidendach. Die biegsamen Zweige reichen fast bis zum Boden, und es ist noch dunkler hier in ihrem Schutz. Viv weicht bis an den Baumstamm zurück und starrt mich an, ihr Atem geht flach und unregelmäßig.
    »Bist du nervös?«, frage ich.
    »Nein«, kommt die zu rasche Antwort.
    Ich strecke die Hand nach ihr aus.
    »Es ist alles in Ordnung.«
    Sie schwankt.
    Verwundert lege ich den Kopf schräg. So hat sie gestern Nacht nicht reagiert.
    »Viv, ich bin es. Wovor hast du denn Angst?«
    Sie hält sich an dem Baum fest, als wäre er eine Art Schutzschild.
    »Warum bist du wirklich hier? Bist du zurückgekommen, um mich zu verfolgen?«
    »Nein, natürlich nicht. Viv, ich bin kein Geist.« Wieder greife ich nach ihrer Hand. Sie will sie mir entziehen, aber ich verschränke unsere Finger und beuge mich nahe zu ihr. »Ich fühle mich lebendig an, oder?«
    Ihr Mund ist nur Zentimeter von meinem entfernt. Unsere Herzen trommeln einen Rhythmus, der in der Luft vibriert. Schließlich entspannt sich ihre Hand in meiner, auch wenn wir beide nach wie vor den Atem anhalten. Sie schließt die Augen und seufzt, als wir uns küssen. Ich drücke sie leicht an den Baumstamm und erforsche sie mit meinem Mund neu. Unsere Kleider sind auf einmal zu dick und im Weg. Ich mache kurz die Augen auf, um ihr heimlich ins Gesicht zu sehen. Ihre langen Wimpern flattern über den Wangenknochen, wie stets, wenn sie sich vor etwas fürchtet.
    Ich ziehe mich zurück.
    Sie lässt mich nicht gleich los, aber ihre Hände beben.
    »Das ist nicht richtig«, sage ich. »Du musst wissen, wer ich bin.«
    Sie beißt sich auf die Lippen, aber nicht auf eine kokette Art. Sie hat Angst.
    »Du bist … mein Cam.«
    Ich seufze. »Nein, ich bin nicht dein Cam. Wie gesagt, Viv, ich bin kein Geist.«
    »Na ja, das nicht, aber …«
    Sacht nehme ich ihre Hand und lege sie auf mein Herz.
    »Ich bin lebendig, aus Fleisch und Blut.«
    Hätte ich mir doch nur früher überlegt, wie ich es ihr erklären soll, jetzt muss ich eben improvisieren. Sie soll es wissen, ich will, dass sie es weiß.
    Ich bin nicht er .
    »Ich bin nicht von hier. Ich meine, ich komme aus einer Welt, die genauso ist wie diese, nur dass dort du gestorben bist.«
    Sie schiebt mich sanft weg und hält mich auf Armeslänge fern. Ich streichele ihre Hand und bemühe mich, sie ins Bild zu setzen, ohne die Dinge unnötig zu komplizieren. Ich erzähle ihr von dem Unfall, von dem grünen Licht und wie ich sie gefunden habe. Nina erwähne ich nicht. Ich beschreibe die Unterschiede zwischen unseren Welten, die sich so ähnlich sind und doch nicht identisch. Als ich meine letzten holprigen Erklärungen von mir gebe, sitzen wir inzwischen unter dem Baum.
    »Zwei Welten?«, fragt sie nach. »Wie kann das sein?«
    Ich zucke die Achseln und zerbreche mir zum hundertsten Mal über die Unmöglichkeit des Ganzen den Kopf.
    »Vielleicht gibt es noch mehr als zwei«, sage ich. »Es ist, als wäre zwischen unseren beiden zufällig ein Fenster aufgegangen.«
    Sie runzelt die Stirn. »Was glaubst du, warum?«
    »Ich weiß es nicht. Wir sind beide an derselben Stelle gestorben …« Dabei fällt mir wieder etwas ein, was Nina gesagt hat: vor zwei Monaten, am Sonntag, dem fünften . Ich beuge mich aufgeregt vor. »Wenn es am selben Ort passiert ist, am selben Tag und ungefähr zur selben Zeit in beiden Welten – vielleicht hat das etwas bewirkt. Vielleicht haben wir etwas bewirkt.«
    »Was denn?«
    Ich zucke abermals die Achseln. »Womöglich hat unsere Trauer eine Art Trennwand eingerissen oder so?«
    Ich merke, dass sie mich jetzt mit anderen Augen betrachtet, und blicke stur auf meine Hände. Ihn kann

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