Bis ich bei dir bin
Straße hinunter in Richtung des Friedhofs. »Wie deprimierend kann es schon sein, mein Grab zu besuchen – mit mir zusammen ?«
Es gibt nichts Stilleres und Gruseligeres als einen Friedhof mitten in der Nacht. Seit ihrer Beerdigung bin ich nicht mehr hier gewesen. Ich habe einfach nie das Gefühl gehabt, dass sie hier zugegen ist, nicht so wie an der Straßenecke. Jetzt verstehe ich wohl auch, warum.
Ich verlaufe mich ein paar Mal, aber das Gelände ist nicht besonders groß, und schließlich finde ich die richtige Reihe von Haywards. Den Grabstein könnte man fast übersehen, nur ein kleiner Naturstein mit einer Gedenktafel; es ist jedoch die einzige Grabstelle, die erst vor Kurzem ausgehoben wurde.
»Dort ist es, dort drüben«, sage ich und zeige darauf.
Viv zieht mich am Arm. »Dann komm.«
Ich schüttele den Kopf. »Geh du allein.«
Sie sieht mich mit gespielter Empörung an. »Du willst mich doch nicht im Ernst allein an meinem eigenen Grab stehen lassen.«
Ich spähe zu dem rechteckigen Stückchen Erde hin. Das Gras wächst langsam darüber und schließt sie ein, als hätte sie schon immer dort gelegen.
Viv verstellt mir den Blick und streichelt meine Wange. »Ich bin hier bei dir, Cam – munter und lebendig.«
Seufzend greife ich nach ihrer Hand und drücke sie. Sie nimmt das alles so gelassen; ich wünschte, ich wäre nur halb so tapfer. Gemeinsam gehen wir auf die Grabstelle zu. Den Grabstein sehe ich heute tatsächlich zum ersten Mal, denn bei der Beerdigung war er noch nicht gesetzt. Viel steht nicht darauf, nur ihr voller Name – Vivian Frances Hayward – sowie ihr Geburts- und Todesdatum.
Ohne Vorwarnung strömen die Erinnerungen an den Unfall wieder auf mich ein: die Straße, der Regen, Reifenquietschen, das Feuerzeug. Alles spielt sich vor mir ab, als würde es in diesem Moment erneut passieren. Ich zucke zusammen, als das Auto gegen den Mast knallt, dann steige ich aus und sehe die zerschmetterte Frontscheibe, all das Blut – und falle ohnmächtig ins Gebüsch. Als ich wieder zu mir komme, zittere ich, drücke Viv fest an mich und vergrabe mein Gesicht an ihrem Hals. Sie flüstert beruhigend auf mich ein, aber irgendwann höre ich, dass auch sie weint.
Ich streichele sanft ihren Rücken, während sie mein Gesicht mit kleinen Küssen bedeckt.
»Es tut mir leid, Cam«, flüstert sie. »Es tut mir so leid.«
»Nein, mir tut es leid«, sage ich kopfschüttelnd.
Wir entfernen uns von dem kalten, leblosen Stein und gehen eine Weile ziellos umher, bis wir auf eine Holzbank an einem der Friedhofswege stoßen. Ich lasse mich darauf fallen und atme in tiefen Zügen die kalte Luft ein.
»So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt«, sage ich, den Kopf in die Hände stützend. Obwohl sie bei mir ist, ist sie zugleich auch dort unter der Erde. »Wir hätten nicht herkommen sollen.«
Sie sagt nichts darauf, und als ich zu ihr hinsehe, weint sie stumme Tränen. Das macht mich fertig. Wenn Viv von Traurigkeit überwältigt wird, geht gar nichts mehr. Meine eigenen schrecklichen Erinnerungen treten zurück, und ich ziehe sie auf meinen Schoß und wiege sie hin und her, während sie nach Atem ringt und von Schluchzen geschüttelt wird.
»Was ist los?«, frage ich leise. »Du kannst es mir sagen.«
Sie schüttelt heftig den Kopf. »Es war so unfasslich, als ich dich verloren habe … Es ist einfach plötzlich passiert und … Wie konntest du nur ?«
»Oh, Viv, ich wollte doch nicht … Ich würde dich nie mit Absicht …«
Ich tätschele ihren Rücken, während sie an meiner Schulter weint, und fühle mich schrecklich hilflos. Das Einzige, was ich tun kann, ist sie halten und ihrem Weinen zuhören. Endlich scheint sie sich zu beruhigen. Sie schnieft noch ein wenig und sagt mit bebender Stimme: »Du warst plötzlich fort, und ich konnte es nicht ertragen …«
»Schsch«, mache ich und ziehe den Schal herunter, um ihr über den Kopf zu streicheln. »Es ist nicht deine Schuld.«
Sie stößt ein trauriges Wimmern aus, legt wieder den Kopf an meine Schulter und hält sich an mir fest. Schließlich entspannt sie sich so weit, dass unser Atem im gleichen Rhythmus geht.
»Du hast gesagt … Versprichst du mir, dass du mich nie wieder verlässt?«, fragt sie.
Eine morbide Sekunde lang denke ich an den Jungen in dem Grab in ihrer Welt und dass ich kein Ersatz für ihn bin.
»So lange du mich willst«, sage ich.
Sie packt mich und zerrt an meiner Jacke, als genügte es ihr nicht, meine Arme um
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