Bis ich bei dir bin
sie herum und funkelt mich empört an.
»Was ist los?«, will ich wissen. »Was war das eben?«
»Wieso weiß sie denn, dass du lebst?«
Darauf fällt mir zunächst keine Antwort ein. Viv wartet mit verschränkten Armen. In was habe ich mich da nur hineingeritten?
»Das ist eine lange Geschichte, weißt du …«
»Warst du bei ihr, bevor du zu mir gekommen bist?«
Ich denke an Nina in dem geisterhaft grünen Licht an diesem ersten Abend und daran, wie sie später vor meiner Haustür stand. Wann war das? Letzte Woche? Es scheint Monate her zu sein.
»Nina ist zu mir gekommen – ich wusste nicht mal, wer sie ist. Ich wusste nicht, dass du am Leben bist.«
Sie kneift skeptisch die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«
Ich schiele zu der pinkfarbenen Morgenröte im Osten hin. »Wo ich herkomme, gibt es keine Nina. Das heißt, schon, aber wir sind uns nie richtig begegnet.«
»Du hast sie in deiner Welt nicht gekannt?«
Ich schüttele den Kopf und hebe hilflos die Hände. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich ohne sie gefunden hätte.«
Sie spielt mit ihrem Seidenschal und geht dabei weiter. Ich folge ihr. Ich verstehe immer noch nichts.
»Worum ging es da eben?«, frage ich.
Sie gleitet mit ihren gewohnten langen Schritten dahin. Die Sonne steigt über den Horizont, und sie holt ihre Sonnenbrille heraus.
»Sie war ziemlich besessen von dir, als du noch gelebt hast«, erklärt sie.
Ich stolpere über irgendetwas auf dem Gehweg. »Was?«
»Sie war beinahe genauso am Boden zerstört wie ich, als du gestorben bist. Sie hat mir richtig leidgetan, tut sie immer noch.«
»Aber … ich dachte, Nina und ich wären bloß gute Freunde gewesen?«
Viv schneidet eine Grimasse, ehe sie antwortet: »Sie war eine Zeit lang sehr verliebt in dich und hat es nicht gut aufgenommen, als du ihr gesagt hast, dass du nur mit ihr befreundet sein willst – weil du natürlich mit mir zusammen warst. Jedenfalls wurde das ein bisschen beängstigend mit ihr, sie tauchte ständig unerwartet irgendwo auf, wollte mit dir in der Öffentlichkeit gesehen werden, schrieb dir kleine Botschaften. Ein bisschen zu stalkermäßig.«
Mein Bein beginnt zu schmerzen, und ich muss langsamer gehen. Viv passt ihr Schritttempo an.
»Stalkermäßig? Nina ist doch kein Stalker!«
»Na ja, wenn sie dir geholfen hat, mich zu finden, ist sie vielleicht endlich darüber hinweg.«
In meinem Kopf dreht sich alles. Es ist irgendwie zu spät, um ihr zu erklären, dass Nina mir nicht absichtlich den Weg zu ihr gewiesen hat, daher sage ich nichts. Wir stehen wieder vor ihrem Haus, in dem immer noch alles dunkel ist, obwohl die Sonne schnell höher steigt.
»Ich sollte jetzt besser gehen, bevor mich noch jemand erkennt«, sage ich.
Sie zieht mich am Jackenkragen an sich.
»Aber du kommst wieder? Du holst mich ab?«
»Natürlich.«
Eine dünne Falte bildet sich zwischen ihren Augenbrauen. »Wirst du auch Nina besuchen?«
»Ich … ich weiß es nicht«, antworte ich. »Wäre es schlimm, wenn ja?«
Sie legt mir die Arme um den Hals und gurrt mir ins Ohr: »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie dich mir wegnehmen würde.«
Ich erstarre. Vivs zärtliches Lächeln überzeugt mich davon, dass sie den Stachel in ihrer Bemerkung nicht beabsichtigt hat. Wie kann sie so etwas sagen, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben? Ich fasse sie um die Taille und lösche die Worte von ihren Lippen.
ZWANZIG
D en ganzen Sonntag verbringe ich damit, mein Zimmer aufzuräumen. Ich habe vor, Viv bei der ersten Gelegenheit hierherzuschmuggeln, und sie soll nicht sehen, wie ich mich habe verkommen lassen. Ich sammele eine Tonne Müll unter dem Bett und aus den Schreibtischschubladen zusammen. Hausaufgaben vom letzten Jahr, die ich nie abgegeben habe, alte Arzneirezepte, ein paar Teller und Becher, die wohl mal etwas Essbares enthielten. Dann mache ich mit dem Kleiderschrank weiter und lege erst eine Pause ein, als mir das weiße Footballtrikot mit der roten Fünf darauf in die Hände fällt. Ich werfe es in den Mülleimer, ziehe es kurz darauf jedoch wieder heraus. Das erste Mal, dass ich »Pike« auf der Rückseite eines Trikots von den Fowler Rams sah, war, als Mike und ich unsere Sachen für das Unterstufenteam abholten. Der Drucker hatte Liu falsch geschrieben, und wir lachten uns auf dem ganzen Nachhauseweg darüber kaputt, wie jemand so blöd sein kann, einen Namen mit drei Buchstaben zu vermasseln. Ich fahre die Nähte mit den Fingern nach. Es ist zu
Weitere Kostenlose Bücher