Bis ich bei dir bin
noch jemand anders zu Hause ist, aber die Dunkelheit ringsum lässt nicht viel erkennen.
»Ist sie oben?«, frage ich.
»Ich will sie nicht nerven …« Er verstummt.
»Komm mit, Owen.« Ich nehme ihn bei der Hand. »Wir gehen zu ihr, ja?«
Seine Finger sind ganz kalt. Er stolpert auf der Treppe, doch ich fange ihn auf und versuche, ruhig zu bleiben. Mit dem Jungen stimmt ernstlich was nicht. Die Tür zu Ninas Zimmer oben ist geschlossen, ich klopfe an, und als sie nicht gleich antwortet, gehe ich einfach hinein.
Nina liegt zusammengekauert auf dem Bett, das genauso ordentlich gemacht ist wie bei meinem letzten Besuch. Sie trägt Jeans und Pulli und hat die Augen geschlossen. Ein Schulheft liegt aufgeschlagen vor ihr, in das sie ein paar Matheaufgaben gekritzelt hat, aber dann ist sie mit einem Comic in der Hand eingeschlafen. Ihr iPod liegt neben ihr, die Ohrstöpsel sind herausgefallen, und es ist ganz still, die Wiedergabeliste, die sie gehört hat, offenbar zu Ende. Ich packe sie an der Wade und schüttele sie.
»Nina!«
Sie tritt aufschreiend um sich, aber ich weiche ihrem Fuß rechtzeitig aus. Als sie zum Kopfkissen zurückrutscht, verheddert sie sich in den Kopfhörern.
»Verdammt – Cam!«
»Owen geht es nicht gut.«
»Was in aller Welt machst du …« Sie sieht zu ihrem Bruder. »Owen?«
Nina wirft nur einen Blick auf ihn, der schwankend neben mir steht, und ist wie der Blitz vom Bett. Sie befühlt seine Stirn und redet auf ihn ein.
»Owen, was ist mit dir? Was hast du?«
»Ich habe Hunger«, murmelt er.
Sie macht ein erschrockenes Gesicht. »Wie spät ist es? Hast du zu Abend gegessen?«
Owen schüttelt den Kopf. »Tante Car hat gesagt, du würdest mir demnächst was machen.«
Sie packt ihn an den Schultern, kneift die Lippen zusammen. »Das ist jetzt sehr wichtig, Owen. Weißt du noch, ob sie dir eine Spritze gegeben hat, bevor sie gegangen ist?«
Er überlegt eine gefühlte Ewigkeit lang, dann nickt er.
»Essen wir jetzt bald?«
Nina ist kurz vorm Weinen. Sie sieht sich hektisch um, als müsste sie schnell einen Plan fassen, und stürzt dann zur Tür.
»Hey, kann ich was tun?«, rufe ich. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
»Er braucht Zucker«, ruft sie zurück, schon halb durch den Flur.
Owen macht den Eindruck, als würde er gleich umkippen. Ich hebe ihn auf meine Arme und folge Nina nach unten. In der Küche kramt sie im Kühlschrank herum und holt einen Kanister mit Orangensaft heraus. Ich setze Owen sanft auf einem Stuhl ab, während sie schwappend Saft in ein Glas schüttet. Sie ist beinahe genauso blass wie ihr Bruder. Als sie ihm das Glas an die Lippen hält, ist ihre Hand so unsicher, dass ich es ihr abnehme und Owen dränge zu trinken.
»Ich bin müde«, murmelt er und wendet den Kopf ab.
»Trink, Owen, bitte!«, fleht Nina.
»Trink den Saft, Kumpel«, sage ich. »Ich kann dir keine von meinen Footballtricks verraten, wenn du hier einschläfst.«
Er rollt den Kopf zu mir herum und öffnet blinzelnd ein Auge. Ich versuche, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, lächele aufmunternd und nicke ihm zu. Zuerst nippt er nur ganz leicht, doch dann trinkt er den Saft bis auf den letzten Tropfen aus. Nina scheint sich allmählich zu beruhigen, als ich das leere Glas wegstelle, woraufhin auch aus meinen Schultern die Anspannung weicht. Ich habe zwar keine Ahnung, wie das bisschen Saft ihm helfen soll, nehme das aber als ein gutes Zeichen.
»Was machst du überhaupt hier?«, fragt sie mich schließlich erschöpft.
»Nichts …« Ich halte inne und denke an den Moment, als Logan mich gesehen hat. Das scheint schon wieder hundert Jahre her zu sein; sie braucht nichts davon zu wissen. »Aber ein Glück, dass ich aufgetaucht bin, was?«
Zehn Minuten später ist Owen etwas munterer, wenn er sich auch immer noch mies fühlt. Ich trage ihn ins Bett, damit er es bequem hat, und Nina überprüft mindestens fünfzig Mal seinen Blutzucker, ehe sie ihm Erdnussbutter- und Geleebrote zum Abendessen bringt.
»Bist du sicher, dass er nicht ins Krankenhaus muss oder so?«, frage ich.
Nina schüttelt den Kopf, steht auf und stellt sich ans Fußende seines Betts. »Er kommt wieder in Ordnung.«
Owen verschränkt stirnrunzelnd seine Arme. »Ich komme nie in Ordnung.«
»Geht es dir wieder schlechter?«, frage ich mit Seitenblick auf das Blutzuckermessgerät.
Er sieht mich kurz an, fixiert dann aber das Footballmuster seiner Bettdecke. »Wie soll ich Football spielen, wenn ich
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