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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Alice schaltete das Licht an, um besser sehen
zu können. »Warum hast du Leslies T-Shirt an, Jack? Klaut Emma jetzt die
T-Shirts ihrer Mutter?«
    Mrs. Oastler war also »Leslie« – eine weitere kleine Überraschung.
Selbst das T-Shirt war seiner Mutter vertrauter, als er gedacht hatte.
Vorsichtig erklärte er ihr, Mrs. Oastler habe ihm das T-Shirt geliehen, weil
sein Hemd und seine Krawatte voller Blut gewesen seien – sie habe beides in die
Reinigung gebracht. Und Emmas Sachen seien ihm zu groß gewesen. Er zeigte Alice
die geschwollene Unterlippe, wo er sich mit einer Heftklammer gestochen hatte,
die er mit den Zähnen hatte entfernen wollen.
    [283]  »Ich hätte dich für klüger gehalten«, sagte seine Mutter.
    Sehr langsam und womöglich noch vorsichtiger sagte er, er habe
gehört, daß sie Mrs. Oastler tätowiert habe – nach Emmas Beschreibung wohl mit
einer Rose von Jericho, erklärte er wenig überzeugend –, doch die Tätowierung
befinde sich an einer so intimen Stelle, daß Emmas Mutter sie ihm nicht habe
zeigen wollen.
    »Es wundert mich, daß sie sie dir nicht gezeigt hat«, sagte Alice.
    »Warum sollte ich mir noch eine Rose von Jericho ansehen?« sagte
Jack. (Selbst für seine eigenen Ohren klang das zu beiläufig.) »Was ist an
ihrer so besonders?«
    »Nur die Stelle, Jack. Es ist eine sehr
besondere Stelle.«
    »Aha.« Wahrscheinlich wandte er den Blick ab. Seine Mutter war eine
so gute Lügnerin, daß es schwer war, sie zu belügen.
    »Nicht jede Frau rasiert ihr Schamhaar wie sie«, sagte Alice.
    »Ihr was?«
    »Die Haare da unten heißen Schamhaar.«
    »Aha.«
    »Du hast noch keine, aber du wirst sie bekommen.«
    »Rasierst du dein Schamhaar wie sie?«
    »Das geht dich nichts an, junger Mann«, sagte sie, doch er sah, daß
sie weinte. Aber er sagte nichts. »Leslie – für dich Mrs. Oastler – ist eine
sehr… unabhängige Frau«, begann Alice, als wäre sie im Begriff, eine lange
Geschichte vorzulesen. »Sie hat eine Scheidung hinter sich, eine schwere Zeit,
aber sie ist sehr… reich. Sie ist entschlossen, alles zu kontrollieren, was ihr
begegnet. Sie ist eine sehr… fordernde Frau.«
    »Sie ist eher klein – kleiner als Emma jedenfalls«, warf Jack ein. (Er
hatte keine Ahnung, was seine Mutter ihm sagen wollte.)
    »Hüte dich vor Mrs. Oastler, Jack.«
    »Ich hüte mich vor Emma«, sagte er vorsichtig.
    »Ja, vor Emma solltest du dich ebenfalls hüten«, sagte seine Mutter,
»aber mehr noch vor ihrer Mutter.«
    [284]  »Gut.«
    »Es ist nicht schlimm, daß sie es dir gezeigt hat«, sagte seine
Mutter. »Ich bin sicher, du hast sie nicht darum gebeten.«
    »Emma hat sie gebeten, es mir zu zeigen«, sagte er.
    »Erzähl mir, was mit deiner Lippe
passiert ist.«
    Jack lernte, daß Erwachsene Dinge besser verbergen können als
Kinder, und ihm wurde immer klarer, daß seine Mutter viel mehr wußte, als sie
ihm sagte. Zum Beispiel Mrs. Wicksteeds Gesundheit: Jack wußte, daß Mrs.
Wicksteed Arthritis hatte, weil er es sehen konnte und sie es ihm erzählt hatte.
Aber niemand hatte ihm gesagt, daß sie Krebs hatte – bis zu dem Tag, an dem sie
nicht aufgestanden war, um ihm die Krawatte zu binden, und da hatte er es von
Lottie erfahren, nicht von seiner Mutter. (Vielleicht war seine Mutter zu
beschäftigt gewesen, vielleicht war es in der Woche gewesen, in der sie Mrs.
Oastler tätowiert hatte.)
    Plötzlich gab es im Haus niemanden mehr, der wußte, wie man eine
Krawatte band – außer Mrs. Wicksteed, die im Sterben lag. »Stirbt sie an
Arthritis?« fragte Jack Lottie.
    »Nein, Schätzchen. Sie hat Krebs.«
    »Aha.« Darum also betete Lottie jeden Abend, der Herr möge Mrs.
Wicksteed noch ein bißchen länger leben lassen.
    An jenem Morgen band Peewee Jacks Krawatte. Er war Fahrer einer
Limousine und band sich jeden Morgen die Krawatte. Er band Jacks Krawatte sehr
nüchtern und sachlich und machte dabei nicht halb so viel Theater wie Mrs.
Wicksteed, als sie noch keine Arthritis gehabt hatte. »Mrs. Wicksteed stirbt,
Peewee.«
    »Das ist wirklich schade, Mann. Was wird dann aus der Lady mit dem
Hinkebein?« Darum also betete Lottie, es möge ihr vergönnt sein, in Toronto zu
sterben. Wie alle anderen wußte auch Peewee, daß Lottie nicht zurück nach
Prince Edward Island wollte.
    [285]  Vielleicht hatte jeder irgendwo eine versteckte Rose von Jericho,
dachte Jack. Vielleicht war sie nicht immer sichtbar, sondern bloß eine andere
Art von Tätowierung – etwa eine Gratis-Tätowierung.

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