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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Eine, mit der man ebenso
fürs Leben gezeichnet war – nur daß niemand es sah.

[286]  13
    Keine Braut auf Bestellung
    Aus Rücksicht auf Mrs. Wicksteed bat Jack Miss Wurtz, ihn
für den Rest der Woche von der Teilnahme an den Proben zu Jane
Eyre zu befreien; immerhin hatte er den Rochester ja bereits gespielt.
(Er beherrschte die Rolle sozusagen blind.) Allerdings war Connie-Turnbull-als-Jane
durch Caroline French ersetzt worden. Jack hatte noch nie ein Mädchen umarmt,
das so groß war wie er selbst. Carolines Haare gerieten ihm in den Mund, was er
unangenehm fand. In jenem Augenblick der Leidenschaft, in dem
Jack-als-Rochester zu Caroline-als-Jane sagte, sie müsse ihn doch sicher für
einen »gottlosen Hund« halten, trommelte Caroline nervös mit den Absätzen auf
den Boden, und Jack konnte sich vorstellen, daß ihr dämlicher Zwillingsbruder
Gordon hinter den Kulissen dasselbe tat. Und als Caroline-als-Jane zum
erstenmal Jack-als-Rochesters Hand nahm und an ihre Lippen preßte, fand er das
widerlich: Sowohl ihre Hand als auch ihr Mund waren klebrig.
    Daß er eine Woche von den Proben befreit werden wollte, lag
natürlich nicht nur daran, daß Mrs. Wicksteed starb; Miss Wurtz war die ganze
Woche in Tränen aufgelöst. Jacks Mutter erzählte ihm, Mrs. Wicksteed habe Miss
Wurtz einmal »aus der Klemme« geholfen. Ob diese sogenannte Klemme auch die
Quelle für ihre teure, geschmackvolle Kleidung gewesen war – der Freund, an den
Emma nicht mehr so recht glaubte –, erfuhr Jack jedoch nie. Er durfte den
Proben fernbleiben. Caroline French war gezwungen, sich ihn in ihrer klebrigen
Umarmung vorzustellen.
    Daß er zur Verfügung stand, war für Mrs. Wicksteed keine große
Hilfe. Sie lag im Krankenhaus und mußte eine ganze Reihe [287]  von Untersuchungen
über sich ergehen lassen. Lottie versicherte dem Jungen, daß er die alte Dame
bestimmt nicht in diesem Zustand sehen wolle. Jacks Mutter verriet ihre Gefühle
mit keinem Wort, wirkte aber besorgt. Wenn Lottie tatsächlich nach Mrs.
Wicksteeds Tod nach Prince Edward Island zurückkehren mußte, vertraute Alice
ihrem Sohn im Halbdunkel ihres Schlafzimmers an, dann würden sie beide noch am
selben Tag auf die Straße gesetzt werden. Jack wollte wissen, ob sie dann,
statt auf der Straße, im Studio des Chinesen übernachten könnten. »Wir werden
nicht mehr in den Nadeln schlafen«, war alles, was sie dazu sagte.
    War Mrs. Wicksteeds geschiedene Tochter ihre Feindin? Sie war nie
damit einverstanden gewesen, daß sie mietfrei bei Mrs. Wicksteed wohnten. Aber
war sie nicht angeblich Mrs. Oastlers Freundin? Waren sie und Leslie Oastler
nicht damals in St. Hilda in dieselbe Klasse gegangen? Jetzt, da Alice und
Leslie befreundet waren, schlug Jack vor, könnte da nicht Mrs. Oastler bei Mrs.
Wicksteeds Tochter ein gutes Wort für sie beide einlegen? Alice sagte dazu
lediglich, daß Mrs. Oastler und Mrs. Wicksteeds Tochter keine guten Freundinnen
mehr seien.
    Es war nur natürlich, daß sich Jack in diesen schweren Zeiten an die
Frau in Grau um Rat wendete, doch Mrs. McQuat wußte etwas, was sie ihm nicht
sagte. Sie empfahl ihm nachdrücklich, mit ihr in der Kapelle zu beten, was nur
bedeutete, daß sie noch mehr als sonst beteten. Und als er sie fragte, ob sie seine
Mutter davon habe überzeugen können, daß die Jungen am Upper Canada College ihn
»zum Frühstück verspeisen« würden, gab die Frau in Grau eine ganz untypische
Antwort: »Vielleicht… wäre das UCC … doch nicht so
schlecht… gewesen, Jack.«
    Wieso »wäre gewesen«? »Entschuldigung, Mrs. McQuat…«, begann Jack.
    »Du bist ein bißchen… jung für ein… Internat, Jack… aber in den USA gibt es Schulen… wo das normal ist.«
    [288]  »Für ein was?«
    Sie saßen in der zweiten Reihe, links vom Mittelgang. Der Altar war
in goldenes Licht getaucht, die Buntglasheiligen scharwenzelten um Jesus herum.
Was für ein Glückspilz – vier Frauen kümmerten sich um ihn! Mrs. McQuat legte
Jack ihren kalten Arm um die Schultern und zog ihn an sich. Ihre trockenen
Lippen berührten seine Schläfe und gaben ihm den allerzartesten Kuß. (Jahre
später las Jack in einem Drehbuch: »Sie gibt ihm einen spröden Kuß«, und mußte
an die Szene in der Kapelle denken.)
    »Für einen Jungen in… deiner Situation, Jack… ist ein bißchen
Unabhängigkeit… vielleicht nicht das Schlechteste.«
    »Ein bißchen was?«
    »Sprich mit deiner Mutter… Jack.«
    Doch weil er bereits erfolglos an diese Tür geklopft

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