Bis ich dich finde
für Miss Wurtz »einfach unfaßbar«, daß
das Stück jährlich aufgeführt wurde, war – in ihren wohlakzentuierten Worten –
»eine Travestie«. Das Stück war in einem kleinen, so gut wie unbekannten Verlag
erschienen, der auf Schulliteratur spezialisiert war. (Miss Wurtz hatte diesen
Verlag einmal mit für sie ungewöhnlicher Vulgarität als »Beaver Penis Press«
bezeichnet, sich bei Jack aber sogleich für das Wort Penis entschuldigt.) Das [291] Stück, versicherte sie Jack, sei, was die schauspielerischen Anforderungen
angehe, unter seiner Würde – es laufe für ihn mehr oder weniger darauf hinaus,
sich vor einem Publikum von älteren Mädchen zu demütigen.
Zu Jacks großer Erleichterung steuerte die Frau in Grau eine Prise
Salz bei. Es sei tatsächlich ein gräßliches Stück, gab Mrs. McQuat zu – »die
Phantasien einer Amateurschriftstellerin, einer lupenreinen Hysterikerin«. 1882
hatte Abigail Cooke ihren angeblich gewalttätigen Mann umgebracht und sich
anschließend erschossen; das Stück, das man auf ihrem Dachboden gefunden hatte,
wurde in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts publiziert. Für manche der
Ehemaligen von St. Hilda, darunter auch Mrs. Wicksteed, war Abigail Cooke eine
Feministin und ihrer Zeit weit voraus gewesen.
Mrs. McQuat überzeugte Jack davon, daß die einzige interessante
Rolle in diesem Stück die war, die man ihm angeboten hatte: die der Braut auf
Bestellung. Sie biete Jack die Gelegenheit, sich »freier« auszudrücken, womit
die Frau in Grau meinte, daß Miss Wurtz diesmal nicht Regie führen würde. In
der Senior School war der für die Theatergruppe zuständige Lehrer – der außer
Mr. Malcolm einzige andere männliche Angehörige des Kollegiums – der quirlige
Mr. Ramsey, ein »überzeugter Junggeselle«, wie man das damals nannte. Er war
nur eins achtundfünfzig groß, hatte einen spatenförmigen blonden Bart und
langes blondes Haar und sah aus wie ein Wikinger im Kinderformat. Mr. Ramsey
war einen ganzen Kopf kleiner als die meisten Schülerinnen der Senior School
und fünf bis zehn Kilo leichter als manche. Seine Stimme war mädchenhaft hoch
und seine Begeisterung für seine Schülerinnen ebenso schrill wie beständig. Mr.
Ramsey war ein rückhaltloser Bewunderer junger Frauen, und die älteren Mädchen
in St. Hilda liebten ihn.
An einer Jungenschule und vielleicht sogar an einer gemischten
Schule wäre Mr. Ramsey gehänselt und verspottet worden, [292] doch in St. Hilda
spielte die Tatsache, daß er offensichtlich homosexuell war, überhaupt keine
Rolle. Wenn jemand so gemein gewesen wäre, Mr. Ramsey »Schwuchtel« oder »Tunte«
zu nennen oder mit irgendeinem jener Worte zu bezeichnen, mit denen Jungen
aufeinander einprügeln, hätten die Mädchen der Senior School ihn in der Luft
zerrissen, und zwar mit Recht.
Trotz Mr. Ramseys peinlicher Vorliebe für Eine
Braut auf Bestellung war er für Jack eine erfrischende Erfahrung, sein
erster wirklich kreativer (und ihn nicht ständig bremsender) Regisseur.
»Ist das der Jack Burns? Womit haben wir
dieses Glück verdient?« rief Mr. Ramsey vor der ersten Probe und riß die Arme
hoch. »Seht ihn euch an!« befahl er den älteren Mädchen, die Jack schon seit
längerem musterten – sie brauchten Mr. Ramseys Ermunterung nicht. »Ist das
nicht die minderjährige Braut, die uns allen das Herz bricht? Ist das nicht die
kostbare Unschuld, die makellose Schönheit, die in jenen finsteren Zeiten so
viele bestellte Bräute ihrem schrecklichen Schicksal zugeführt hat?«
Mit »Schicksal« kannte Jack sich aus – immerhin hatte er Tess
gespielt. Rein literarisch konnte Eine Braut auf Bestellung damit kaum konkurrieren, doch bei einem Publikum aus pubertierenden (und oft
hysterischen) Mädchen sorgte die Heldin, wie Mr. Ramsey ganz richtig bemerkt
hatte, zuverlässig für Druck auf die Tränendrüsen.
Aus den rauhen Northwest Territories, wo Männer Männer und Frauen
rar sind, schickt eine Pioniergemeinschaft aus Trappern und Eisfischern einen
ansehnlichen Betrag »für Reisekosten« an eine Agentur namens Brides Back East.
Die bedauernswerten Bräute sind nichtvermittelbare Waisenmädchen aus Quebec,
von denen viele nicht einmal Englisch sprechen. Als sie in die Northwest
Territories aufbrechen, wo man sie ihren zukünftigen Ehemännern zuführen wird,
hat bei einigen der Mädchen die Pubertät noch nicht einmal begonnen. Das Stück
spielt in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts; die Reise von [293]
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