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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eine
Antwort nachdenken konnte, fuhr sie fort: »Ich habe das Gefühl, Alice wird sich
noch nicht so recht mit dem Gedanken anfreunden können, daß du eine
Sechzehnjährige küßt.«
    [278]  Seine Mutter war für Mrs. Oastler also »Alice«. Das war keine
allzu große Überraschung. Er hätte es sich denken können. Eine Rose von Jericho
zu tätowieren war eine längere Prozedur – das dauerte mindestens ein paar
Stunden, und in diesem Fall ging es um einen besonders intimen Bereich des
Körpers. Jack konnte sich gut vorstellen, daß sich seine Mutter und Mrs.
Oastler blendend verstanden hatten. Und wenn man stundenlang auf einem Bett
oder Tisch lag und wenige Zentimeter über der Vulva eine Rose von Jericho
gestochen bekam – nun, welche Themen sollte man unter diesen Umständen
aussparen wollen? Man konnte sich auch in der Hälfte der Zeit, die eine Rose
von Jericho dauerte, mit jemandem anfreunden. Alice hatte stundenlang Mrs.
Oastlers Schamgegend vor sich gehabt; wie sollte man sich in einer solchen
Situation denn nicht näher kennenlernen? Alice hatte sich anscheinend Mrs.
Oastlers Meinung über das Verhältnis zwischen Emma und Jack zu eigen gemacht,
aber daß Jack sich die Lippe bei einem Kußunfall verletzt hatte, würde den zarten Keim der Freundschaft zwischen Alice und Mrs.
Oastler rasch ersticken. Jedenfalls fand Jack es sehr vernünftig, seiner Mutter
nicht zu erzählen, daß er Emma geküßt und sich dabei verletzt hatte.
    »Du kannst ja sagen, es war eine Heftklammer, Jack. Ich wollte zwei
Blätter Papier trennen, die mit einer Heftklammer zusammengetackert waren, und
du wolltest mir helfen. Du hast versucht, sie mit den Zähnen aufzubiegen.«
    »Warum sollte ich das mit den Zähnen machen?« fragte er.
    »Weil du ein Kind bist«, sagte Mrs. Oastler. Sie tätschelte den
Slip, den Jack noch immer wie eine Mütze trug, pflückte ihn dann von seinem
Kopf und warf ihn in einen offenen Wäschebehälter. Es war ein guter Wurf. Sie
besaß eine athletische, jungenhafte Eleganz. »Ich suche dir ein T-Shirt raus,
damit du was für den Heimweg hast. Sag deiner Mutter, daß ich das Hemd und die
Krawatte in die Reinigung gebracht habe.«
    [279]  »Ja«, sagte er.
    Als sie in ihr Schlafzimmer gegangen war und eine Schublade aufzog,
stand Jack mit nacktem Oberkörper vor dem Waschbecken und betrachtete sich im
Spiegel, als erwartete er spontanes, sichtbares Wachstum. Mrs. Oastler kehrte mit
einem T-Shirt zurück. Es war schwarz, wie ihr Slip, und die Ärmel waren kurz
und eng geschnitten. Mrs. Oastler war so zierlich, daß Jack das T-Shirt nur
wenig zu groß war. »Das ist natürlich eins von meinen«, sagte sie. »Emmas
Sachen wären dir viel zu groß«, fügte sie mißbilligend hinzu.
    Seine Unterlippe hatte endlich aufgehört zu bluten, war aber noch
geschwollen, und man konnte das kleine Loch sehen, das der Draht von Emmas
Spange hinterlassen hatte. Als Mrs. Oastler sanft etwas Lipgloss auf die Wunde
strich, trat Emma ins Badezimmer. »In dem T-Shirt siehst du wie ein Mädchen
aus«, sagte sie.
    »Na ja, er ist ja auch hübsch genug, um ein Mädchen zu sein, oder
nicht?« sagte Mrs. Oastler. In Emmas mißmutigem Gesicht und ihrer
zusammengesunkenen Haltung war eine gewisse Scham zu erkennen, als würde sie
sich die Worte ihrer Mutter zu Herzen nehmen. (Jack war vielleicht hübsch
genug, um ein Mädchen zu sein, doch für Emma galt das nicht – jedenfalls nach
Meinung ihrer Mutter.) »Wir werden Jacks Mutter sagen, daß er sich an einer
Heftklammer verletzt hat. Er hat versucht, eine Heftklammer mit den Zähnen zu
öffnen, der dumme Junge.«
    »Ich will die verdammte Rose von Jericho sehen«, sagte Emma. »Und
ich will, daß Jack sie auch sieht.«
    Wortlos zog Mrs. Oastler, die eine schwarze Jeans mit silbernem
Gürtel trug, ihren ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover hoch. Sie öffnete den
Gürtel und schob die Jeans über ihre schmalen Hüften. Jack konnte nur die obere
Hälfte der Rose von Jericho sehen, der Rest war vom Slip verdeckt. Sie hakte
die Daumen hinter das Bündchen des Slips, doch bevor sie ihn auszog, [280]  sagte
sie: »Das hier, Jack, fällt in die Kategorie der Dinge, die deine Mutter nur
unnötig aufregen würden – es ist vielleicht noch schlimmer, als Sechzehnjährige
zu küssen, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Aha«, sagte er noch einmal, und sie streifte den Slip ab.
    Da war sie. (Nicht die Rose von Jericho. Jack verschwendete keine
Sekunde damit, sie zu begutachten. Seine

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