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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hatte, fragte
er statt dessen Emma Oastler. Emma führte ihn durch das Anwesen ihrer Mutter in
Forest Hill. Sie besichtigten die Gästezimmer – den »Gästeflügel«, wie Mrs.
Oastler sich ausdrückte. Dort befanden sich drei Gästezimmer, jedes mit eigenem
Bad. Es war tatsächlich ein Flügel. »Im Ernst«, sagte Emma, »ich verstehe
nicht, warum ihr nicht einfach hier einzieht, du und deine Mutter. Ich finde es
idiotisch, dich wegzuschicken.«
    »Wohin überhaupt?«
    »Rede mit deiner Mutter, Jack. Es ist ja schließlich ihre Idee. Sie
denkt, daß wir zwei kein gutes Paar sind. Sie will nicht, daß du im selben Haus
wie ich durch die Pubertät gehst.«
    »Durch die was?«
    »Dabei müßten wir ja gar nicht im selben Zimmer schlafen«, sagte
Emma und drückte ihn auf das größte der Gästebetten. »Aber deine und meine
Mutter haben diese St.-Hilda-Mentalität: Mädchen kriegen Jungen zu sehen, bis
die Jungen neun sind, bis sie einfach verschwinden.«
    »Verschwinden wohin?«
    [289]  Emma unterzog seinen Penis gerade einer ihrer routinemäßigen
Untersuchungen, die sie melancholisch zu stimmen schien. Sie streifte Jacks
Hose und Unterhose hinunter und legte ihren schweren Kopf auf seinen nackten
Oberschenkel. »Ich habe eine neue Theorie«, sagte sie, als spräche sie
ausschließlich zu seinem Kleinen. »Vielleicht bist du doch schon alt genug.
Vielleicht bin ich noch nicht alt genug – jedenfalls
nicht alt genug für dich.«
    »Verschwinden wohin?« fragte Jack abermals. »Wohin will sie mich
schicken?«
    »Auf eine Jungenschule in Maine, Zuckerbär. Ziemlich abgelegen,
soviel ich weiß.«
    »Ziemlich was?«
    »Vielleicht müssen die Frauen älter sein, als ich gedacht habe,
damit sie deinem Kleinen gefallen«, sagte Emma. Sein Penis lag klein und still
in ihrer Hand. Jack wurde nach Maine geschickt, aber das war dem Kleinen ganz
egal. »Ich hab mit ein paar Mädchen aus der dreizehnten und einer aus der
zwölften Klasse gesprochen. Die wissen über Penisse Bescheid«, fuhr Emma fort.
»Vielleicht können die uns helfen.«
    »Bei was?«
    »Das Problem ist, daß sie Internatsschülerinnen sind. Und in den
Trakt kommen wir nur, wenn du ein Mädchen bist, Süßer.«
    Jack hätte es ahnen sollen. Fiel es ihm schwer, ein Mädchen zu sein?
Er war, wie Mrs. Oastler bemerkt hatte, hübsch genug, und bei seinen
zahlreichen Auftritten in St. Hilda hatte er häufiger Frauen als Männer
gespielt.
    Trotz Miss Wurtz’ Einwänden hatte man ihm erst kürzlich die Rolle
einer Frau in dem von der Senior School aufgeführten Stück Eine
Braut auf Bestellung gegeben, einem Melodram, das die Wurtz verachtete.
Jack war die bedauernswerte minderjährige Braut. Wegen der besonderen Thematik
dieses Stückes aus dem 19. Jahrhundert – es wurde jedes Jahr ausschließlich für
die Schülerinnen der Senior School aufgeführt – mußte er die [290]  Genehmigung
seiner Mutter einholen. Alice hatte, wie üblich, ihre Zustimmung gegeben. Sie
kannte das Stück nicht. Sie war nicht in Kanada aufgewachsen und daher in ihrer
Jugend von Eine Braut auf Bestellung verschont
geblieben – im Gegensatz zu fast allen Kanadierinnen ihrer Generation. (Und im
Gegensatz zu fast allen Kanadierinnen von Emmas Generation.)
    In jenen Tagen – und besonders in St. Hilda – fütterte man die
Mädchen der Senior School beinahe ausschließlich mit kanadischer Literatur.
Miss Wurtz fand es empörend, daß viele Romane von internationaler Geltung – die
von ihr verehrten Klassiker – weitgehend durch Can Lit, wie man es nannte,
ersetzt wurden. Kanada besitze viele hervorragende Schriftsteller, erklärte
sie, wenn sie nicht gerade von den sogenannten Klassikern schwärmte. (Ihre
kanadischen Lieblingsautoren waren Robertson Davies, Alice Munro und Margaret
Atwood.) Noch Jahre später schrieb sie Jack – als wären sie noch mitten in der
Diskussion um Eine Braut auf Bestellung –, er solle
Alice Munros A Wilderness Station lesen, eine
hervorragende Geschichte über eine Braut auf Bestellung. Sie wollte nicht, daß
Jack dachte, ihre Abneigung gegen das jährlich von der Senior School
aufgeführte Stück beruhe auf einem Widerwillen gegen das Thema.
    Abigail Cooke, die Verfasserin des Stücks, hatte eine unglückliche
Ehe in den Northwest Territories geführt und gehörte gewiß nicht zu Kanadas
besten Schriftstellerinnen. Sie hatte nicht Alice Munroes Kaliber. Daß Eine Braut auf Bestellung in der Senior School von St.
Hilda zur Pflichtlektüre gehörte, war

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