Bis ich dich finde
Mutter war ein Profi, und er nahm an,
daß Tochter Alice’ Rose von Jericho jedesmal gleich aussah.) Während Emma die
unverkennbare andere Blume in der Rose entdeckte und
nach Luft schnappte, warf Jack einen langen, forschenden Blick auf das
Original. Es war schon die zweite Vulva, die er an diesem Tag zu Gesicht bekam.
Emmas Schamhaar war so ungebärdig wie sie selbst, wogegen das ihrer Mutter
säuberlich geschnitten war. Und wenn Jack je an Emmas Urteil gezweifelt hatte –
daß er, wie sie es ausdrückte, »die übliche Vorliebe für ältere Frauen« hatte
–, so waren seine Zweifel nun zerstreut. Emmas Vulva hatte seinen Kleinen
weitgehend unbeeindruckt gelassen – doch was sollte er von dem Quantensprung
halten, den sein Penis als Reaktion auf Emmas Mutter machte? »Ist ja ekelhaft!«
sagte Emma. (Sie meinte die Tätowierung.)
»Es ist eine Rose von Jericho – so muß sie aussehen«, beharrte Jack.
»Meine Mutter macht sie gut.«
Während die beiden auf ihre Vulva starrten, fuhr Mrs. Oastler ihm
durchs Haar und sagte: »Allerdings, Jack, allerdings.«
Mit einemmal gab Emma ihm einen Stoß, daß er über die Fliesen
rutschte und neben dem Wäschebehälter landete. Unwillkürlich legte er einen
Finger an die Unterlippe, um zu sehen, ob er wieder blutete. »Du hast nicht auf
die Tätowierung gesehen, Zuckerbär!«
»So sind Jungs nun mal, Emma«, sagte Mrs. Oastler. »Sei nett zu
Jack. Paß auf, daß er nicht wieder blutet.«
Emma packte den Stoff des winzigen T-Shirts ihrer Mutter [281] und
zerrte Jack auf die Beine. In einem der vielen Spiegel sah Jack, wie Mrs.
Oastler ihren Slip und die schwarze Jeans wieder anzog. »Und was sagt der
Kleine zu der Rose von Jericho meiner Mutter?« fragte Emma ihn mit bedrohlichem
Unterton.
Mrs. Oastler ahnte natürlich nicht, daß Emma Jacks Penis meinte.
Wahrscheinlich dachte sie, ihre Tochter mache sich über Jacks Körpergröße
lustig. »Sei nicht so biestig, Emma«, ermahnte Mrs. Oastler sie. »Das gehört
sich nicht.«
Beim Abschied fand Jack es verwirrend, daß sowohl Emma als auch Mrs.
Oastler ihn küßten – Mrs. Oastler auf die Wange, Emma auf die unbeschädigte
Oberlippe. Da auch dies in die Kategorie der Dinge fiel, die seine Mutter nur
unnötig aufgeregt hätten, beschloß Jack, ihr nichts von dieser Verwirrung zu
sagen und auch den ganzen Rest des ereignisreichen Nachmittags im Haus der
Oastlers in Forest Hill unerwähnt zu lassen.
An jenem Abend ging Jack in Mrs. Oastlers schwarzem T-Shirt zu Bett,
obwohl Lottie sagte, in seinem Pyjama gefalle er ihr besser. Sie wickelte einen
Eiswürfel in einen Waschlappen und hielt diesen an seine Unterlippe, während
sie ein Abendgebet sprach. »Möge der Herr dich beschützen, Jack, und dich davor
bewahren, anderen weh zu tun«, begann sie immer. Jack fand, das letztere sei
eine unnötige Sorge. Warum sollte er anderen weh tun? »Möge der Herr Mrs.
Wicksteed noch ein bißchen länger leben lassen. Und möge es mir vergönnt sein,
in Toronto zu sterben und nie mehr nach Prince Edward Island zurückzukehren.«
»Amen«, versuchte Jack an diesem Punkt zu sagen, in der Hoffnung,
das Gebet sei zu Ende.
Aber Lottie war noch nicht fertig. »Bitte erlöse Alice von ihren
Neigungen –«
»Von ihren was?«
»Du weißt schon – von ihren Vorlieben«, sagte Lottie. »Bei der Wahl
ihrer Freunde.«
[282] »Aha.«
»Möge Gott geben, daß deine Mutter sich nicht weh tut, um es mal
salopp zu sagen«, fuhr Lottie fort. »Und möge der Herr den Boden segnen, auf
dem du gehst, Jack Burns, damit du dir der Versuchung immer bewußt bist. Mögest
du der Inbegriff dessen werden, was ein Mann sein sollte, Jack, und nicht dessen, was die meisten Männer sind.«
»Amen«, sagte er noch einmal.
»Das muß ich sagen, und du mußt es mir nachsprechen«, sagte Lottie
dann jedesmal.
»Ach, stimmt ja.«
»Danke, Mrs. Wicksteed«, flüsterte Lottie zum Schluß – beinahe als
wäre Mrs. Wicksteed Gott und als hätte Lottie von Anfang an zu ihr gesprochen.
»Amen.«
»Amen.«
Sie nahm den Waschlappen mit dem Eiswürfel von seiner Lippe, die
inzwischen gefühllos war. Jack war hellwach, und sobald Lottie hinausgegangen
war, schlich er ins Zimmer seiner Mutter und kroch in ihr Bett, wo er
schließlich einschlief. (Viele lebhafte Bilder gingen ihm nach diesem Vulva-Tag
durch den Kopf; es war unmöglich, sofort einzuschlafen.)
Das Bein seiner Mutter, das quer über ihm lag, weckte ihn, und es
war das T-Shirt, das sie weckte.
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