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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schlimmer, Mann!« rief Peewee.
    Doch Jack spielte nur noch für sein Einmannpublikum. Er schrie und
schrie. Er hob die gefesselten Hände, und Blut tropfte auf sein Gesicht. Was
eine lange verzögerte erste Monatsblutung hatte sein sollen, sah mit einemmal
aus wie eine tödliche Verwundung. An dieser Stelle sollte ein Mitglied der Jury
(eine der beiden Frauen) sagen, dies sei ganz offensichtlich das erste Mal, daß
Jenny eine Blutung habe, aber Jack-als-Jenny hörte es nicht. Auch das Publikum
konnte es nicht hören. Sogar Bonnie, die Souffleuse, soufflierte nicht mehr.
Jack schrie wie am Spieß.
    Man wollte ihn wegschicken, nach Maine! Er hatte es geschafft zu
ejakulieren, und zwar nicht nur, weil er sich zu Bonnie Hamiltons Schmerz
hingezogen fühlte, sondern auch, weil er nach wie vor von Emmas Schnurrbart
fasziniert war – und er war beinahe gestorben, weil er bei dem Kuß die Luft
angehalten hatte! Mrs. Wicksteed lag im Sterben. Lottie mußte mit dem Schiff
zurück nach Prince Edward Island fahren. Jacks Welt war wieder einmal im
Umbruch. Er konnte nicht aufhören zu schreien. Jack-als-Jenny blutete so, daß
es für die ersten fünf Monatsblutungen einer jungen
Frau gereicht hätte.
    Auf Miss Wurtz’ hingerissenem Gesicht breitete sich ein Ausdruck
verblüfften Verstehens aus: In ihrem literarischen Snobismus hatte sie sowohl
Jacks Improvisationstalent als auch das Potential von Eine
Braut auf Bestellung unterschätzt. Das gesamte Ensemble war erstarrt.
Hinter den Kulissen übergab sich Sandra Steward abermals. (Ginny Jarvis, der
inzwischen erschossene Mr. Halliday, sagte, das alles sei Jacks Schuld.)
    Emma saß mit offenem Mund da und hatte aufgehört, auf ihrem Kaugummi
zu kauen. Selbst Mrs. Oastler schien von all dem Blut und Geschrei beeindruckt.
Mrs. Peewee hielt ihren Hut umklammert, als wollte sie den Papagei erwürgen.
Jack [308]  registrierte kaum, daß Peewee auf die Bühne gestürzt war, um ihm zu
helfen. Er fuhr einfach fort zu bluten und zu schreien. Erst als sein Blick auf
seine Mutter fiel, vergaß er sein Einmannpublikum.
    Alice hatte es in letzter Zeit nicht gerade leicht gehabt. Kürzlich
hatte sie Jack dabei ertappt, daß er unter der Bettdecke einen Blick auf ihre
Kaiserschnittnarbe hatte erhaschen wollen. Im Halbdunkel des Schlafzimmers
hatte Jack sie nicht erkennen können. Er wolle nur sehen, hatte er erklärt, ob
es eine senkrechte Narbe sei oder eine Bikininarbe wie bei Mrs. Oastler.
    »Aber Jack – das ist etwas Privates! Das geht dich nichts an!« Aber
warum hatte sie sich so aufgeregt?
    Vielleicht dachte Alice, als sie in der ersten Reihe saß und auf die
Bühne sah, an diesen heiklen Augenblick – oder daran, daß Mrs. Wicksteed im
Sterben lag, daß sie Lottie verlieren würde. (Oder an die Zukunft – unter
anderem daran, daß sie bei Mrs. Oastler einziehen würde.)
    Während Jack schrie und blutete, wurde ihm bewußt, daß seine Mutter,
wie Peewee, nicht oft ins Theater ging. Sie glaubte wohl, ihn schon oft »spielen«
gesehen zu haben, doch auf das hier war sie nicht vorbereitet. Ihr Mund stand
offen wie der von Emma, sie drückte die Fäuste an die Schläfen und preßte die
Knie zusammen, als wäre sie diejenige, die ihre erste Periode erlebte. Und weil
Jack so laut schrie, konnte er sie nicht weinen hören. Er sah die Tränen, die
ihr über die Wangen liefen. Sie weinte, sie weinte hemmungslos, sie war völlig
hysterisch. Jack sah, daß Leslie Oastler sie zu trösten versuchte. Emma starrte
nicht mehr Jack, sondern Alice an.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte Jack zu Peewee, der ihn auf die
Arme genommen hatte und nach einem Arzt rief. »Es ist nur ein Stück, Peewee!«
    »Mann, du hast genug geblutet für uns beide!« sagte Peewee, doch
Jack sah wie gebannt auf seine Mutter.
    [309]  »Ach, Jackie, Jackie!« heulte sie. »Es tut mir so leid, es tut
mir so leid!«
    »Alles in Ordnung, Mom«, sagte er, doch sie hörte ihn nicht, denn
jetzt brandete Applaus auf und schwoll an zu einer stehenden Ovation. (Sogar
die Wurtz klatschte.) Das ganze Ensemble versammelte sich auf der Bühne. Alle
verbeugten sich, aber Peewee setzte Jack nicht ab.
    »Es ist bloß Wasser mit Lebensmittelfarbe, Peewee«, flüsterte Jack
dem großen Mann ins Ohr. »Es war nur ein Requisit. In Wirklichkeit blute ich
nicht.«
    »Scheiße, Mann«, sagte Peewee, »was soll ich jetzt mit dir machen?«
    »Verbeugen«, sagte der Junge. Und Peewee, der Jack-als-Jenny in den
Armen hielt, verbeugte sich.
    Am

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