Bis ich dich finde
glaube, daß Bonnie Angst hat«,
warf Penny mit einem Lachen ein.
»Wenn Bonnie Angst hat, sollten wir lieber aufhören«, sagte Jack,
dem gar nicht ganz bewußt war, was sie da begonnen hatten. Für ihn sah Bonnie
Hamilton aus, als habe sie schreckliche Angst. Und er bekam immer mehr Angst
vor dem, was ihr angst machte.
»Er ist ein verängstigter kleiner Junge!« rief Bonnie weinend.
»Ich bin ja da, Zuckerbär«, sagte Emma. Sie beugte sich über Jack
und küßte ihn auf den Mund. Er konnte sich später nicht erinnern, ob er ihre
Zunge gespürt hatte; er war auf ihre Oberlippe fixiert. Vielleicht war es ihr
Schnurrbart, der ihn den Atem anhalten ließ.
»Küß ihn weiter, Emma«, sagte Ginny Jarvis.
»Hier tut sich was, ganz eindeutig«, präzisierte Penny Hamilton.
Es war nicht so, daß er nicht hätte atmen können – er hörte einfach
auf zu atmen. Er sah zahllose dahinjagende Sterne, das Flackern des
Polarlichts, die Aurora borealis, die alle Kanadier so lieben. »Paß auf, daß er
noch Luft kriegt, Emma«, hörte er Bonnie Hamilton sagen.
»Achtung!« rief Ginny Jarvis. Seine Ejakulation traf Penny Hamilton,
als sie seinen Penis näher betrachten wollte – sie war zu nah. (Und dabei hatte
keine ihn berührt!)
»Genau zwischen die Augen, Zuckerbär«, sagte Emma ihm später. »Ich
bin so stolz auf dich! Es war meine Schuld, daß du Angst hattest. Diese Mädchen
werden dir nicht mehr zu nahe kommen, Süßer. Von jetzt an passe ich besser auf
dich auf.«
Bonnie Hamilton starrte in Jacks Augen und konnte den Blick nicht
abwenden. »Was siehst du, Jack?« fragte sie ihn. »Was
ist da?«
»Du bist das schönste von allen Mädchen«, sagte er, noch immer nach
Atem ringend.
[301] »Er redet wirr – er weiß nicht, was er sagt«, sagte Emma grausam,
doch Bonnie schien sie gar nicht zu hören und sah nur Jack an. Ihre Schwester
wischte sich wütend mit einer Handvoll Papiertücher das Gesicht ab. Jack wollte
natürlich das Blut sehen.
»Das was, Zuckerbär?«
»Wahrscheinlich denkt er, er ist Darlin’ Jenny«, sagte Ginny Jarvis.
»Jungs sind doch wirklich ekelhaft!«
Emma nahm ihn an der Hand. Sie verließen den Wohntrakt auf demselben
Weg, den sie gekommen waren, und gingen zur Bühnengarderobe, wo Jack sich
umzog. Er hatte eigentlich noch die Szene mit dem platzenden Plastikbeutel
proben wollen, aber Mr. Ramsey war bereits gegangen.
Peewee war im Town Car eingeschlafen. Jack und Emma gingen zu Fuß zu
dem Haus Ecke Lowther Avenue und Spadina Road, denn Lottie verbrachte jetzt den
größten Teil ihrer Zeit im Krankenhaus, wo Mrs. Wicksteed, wie sie sagte, »an
der Schwelle des Todes« stand, und Alice war entweder beim Chinesen oder bei
Mrs. Oastler. Jack war gerührt, weil Emma ihn in Schutz genommen und
versprochen hatte, ihm die älteren Mädchen vom Leib zu halten – aber für wie
lange? Sollte er nicht von der fünften Klasse an in Maine zur Schule gehen?
(Wer würde ihm die Jungen vom Leib halten?)
Emmas Entdeckung, daß sie mit dem Eintritt in die elfte Klasse
Internatsschülerin sein würde, war ebenso beunruhigend. Warum sollte sie
eigentlich ins Internat? fragte sich Jack. Emma wohnte doch zu Hause. Sie
konnte zu Fuß zur Schule gehen. »Meine Mutter will mich nicht um sich haben«,
war alles, was Emma dazu sagte. Die Aussicht, im Internat zu wohnen, machte sie
noch mißmutiger.
Sie waren in Jacks Zimmer, wo Emma seinen Kleinen untersuchte.
»Keine Anzeichen von Beschädigung oder Abnutzung«, sagte sie. »Du kannst dich
wahrscheinlich nicht mehr erinnern, an was du gedacht hast, oder?« Jack konnte
sich gerade noch [302] daran erinnern, daß er nicht mehr geatmet hatte, aber nach
seiner Nahtod-Ejakulation fragte er sich, ob Mrs. Wicksteed beim Sterben wohl
ebenfalls dieses Polarlicht sehen würde. Er mühte sich auch, für Emma in Worte
zu fassen, warum er sich zu Bonnie Hamilton hingezogen gefühlt hatte: Es war
nicht nur das Hinken, sondern auch ihre allgemeine Aura der Beschädigung, die
Tatsache, daß sie verletzt worden war. Jack konnte es nicht richtig ausdrücken,
ebensowenig wie er den Blick zu schildern vermochte, mit dem Bonnie ihn
angesehen hatte – er hatte gesehen, wie hingerissen sie gewesen war, auch wenn
sie selbst es gar nicht bemerkt hatte.
Jack versuchte sogar, mit der Frau in Grau darüber zu sprechen –
natürlich ohne zu verraten, daß er im Wohntrakt der Internatsschülerinnen eine
Nahtod-Ejakulation erlebt hatte. »Eines der älteren Mädchen?« fragte
Weitere Kostenlose Bücher