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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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noch immer ganz aufgeregt wegen der Schüsse.
Emma kaute Kaugummi. Miss Wurtz schien der schweigsamen Mrs. McQuat einen
ausführlichen Vortrag über das Stück und zweifellos auch über das Thema
Menstruation zu halten. Alice und Mrs. Oastler hielten Händchen.
    [305]  Warum hielten sie Händchen? fragte sich Jack. Er wußte, daß das
unter Holländerinnen und anderen Europäerinnen gang und gäbe war, doch bei
kanadischen Frauen hatte er es, abgesehen von ein paar Schülerinnen in St.
Hilda, noch nie beobachtet. Junge Frauen und Mädchen hielten sich hin und
wieder an den Händen, aber nicht Frauen in Alice’ und Leslie Oastlers Alter.
Außerdem hatte Emmas Mutter die Schuhe ausgezogen. Mit einem Fuß, der kleiner
war als Emmas, streichelte sie Alice’ nackte Wade. Verständnislos sah Jack zu.
Er hatte, im Gegensatz zu Emma, noch nicht begriffen, warum seine Mutter und
Mrs. Oastler in dem großen Anwesen allein sein wollten; daß Emma und Jack »kein
gutes Paar« waren, war schließlich nur einer von mehreren Gründen.
    Mr. Ramsey unterbrach Jack bei der Betrachtung des Publikums. Es war
an der Zeit, dem Jungen den Plastikbeutel umzubinden und ihm das Kleid
anzuziehen, das er bei der Gerichtsverhandlung zu tragen hatte. Vielleicht war
eine Ähnlichkeit mit Johanna von Orleans beabsichtigt, auch wenn es Jack
(abgesehen davon, daß er auf der Bühne seine erste Monatsblutung hatte) besser
ergehen würde als ihr. Das Kleid war aus Sackleinen und hellgelb wie eine
Kartoffel. Auf einem so neutralen Hintergrund würde das Blut, wie Mr. Ramsey
ihm versicherte, ganz besonders gut zur Geltung kommen. Anfangs war das klamme
Gefühl des Plastikbeutels, der unter dem Kleid auf Jacks nacktem Bauch lag,
unangenehm. Obgleich der Beutel nicht sehr groß war, hatte Mr. Ramsey Sorge,
Jack-als-Jenny könnte aussehen wie eine Schwangere. Er löste den Knoten, mit
dem der Beutel verschlossen war, damit überschüssige Luft entweichen konnte,
und das hatte möglicherweise das kleine Leck zur Folge, das Jack erst bemerkte,
als er sich auf seinen Platz im Zeugenstand gesetzt hatte. Er glaubte, es
handle sich um Schweiß, doch was an seinem Bein hinunterlief, war Blut oder
vielmehr mit Lebensmittelfarbe gefärbtes Wasser. Er dachte an seine
Nahtod-Ejakulation und [306]  fürchtete zunächst, daß sein Penis blutete. Als er
merkte, daß der Beutel ein Leck hatte, fragte er sich, ob bei der so überaus
wichtigen Szene noch genug Blut darin sein würde.
    Nach der Vorstellung pries Mr. Ramsey Jacks »Vorarbeit« für das
Aufspringen, Schreien, Bluten, das dann folgte – wie er sich auf dem Stuhl
gewunden hatte, als hätte seine erste Blutung, von ihm selbst noch gar nicht
richtig bemerkt, bereits eingesetzt. Und das hatte sie ja auch.
    Jenny machte ihre Aussage – und stockte. Mr. Ramsey sagte später,
das sei ein »brillanter Einfall« gewesen, doch die pflichtbewußte Souffleuse
Bonnie Hamilton blickte von ihrem Schoß auf und musterte Jack-als-Jenny mit
größter Sorge. (Jack konnte seinen noch ungesprochenen Text von ihren Lippen
ablesen.) Er merkte, daß das Publikum unruhig wurde, und hoffte, daß man das
Blutrinnsal nicht sah. Doch Peewee sah es. Der Arme ging nicht regelmäßig ins
Theater; er war nur Jack zuliebe gekommen. Peewee wußte nichts von Requisiten –
die Pistole hatte ihn vollkommen überrascht. Jetzt sah er, daß Jack blutete.
War es die Anspannung, war es eine geplatzte Ader oder gar eine Stichwunde, die
eines der älteren Mädchen ihm hinter den Kulissen beigebracht hatte? Jack war
nur noch wenige Zeilen von seinem Ausbruch entfernt, als Peewee aufsprang und
auf den Jungen zeigte. »Jack, du blutest ja, Mann!« rief er.
    Es war genau das, was die Wurtz fürchtete: Improvisation. Jack
beschloß spontan, den Rest seiner Zeugenaussage zu streichen. Bonnie Hamilton
schnappte nach Luft. Aber er blutete ja bereits. Waren denn das Blut und seine
Reaktion darauf nicht die Aussage, die am meisten für ihn sprach? Jack sprang
auf und schlug mit beiden Fäusten auf den Wasserbeutel, der allerdings einiges
von seinem Inhalt verloren hatte und nicht mehr so prall gefüllt war, daß er
leicht platzte. Darlin’ Jenny schlug wieder und wieder auf ihren Unterleib. Der
letzte Schlag war etwas zu hart – Jack-als-Jenny krümmte sich zusammen. Der
Beutel platzte mit [307]  einem Geräusch, als würde eine Sehne zerreißen, und das
Blut breitete sich rasend schnell auf dem hellgelben Kleid aus.
    »Jack, du machst es nur noch

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