Bis ich dich finde
Ringname Krung war.
Mr. Bangkok und der Ringer aus der Ukraine – er hieß Sewtschenko, aber Alice
nannte ihn nur Tschenko – waren beide ältere Männer mit [315] Glatzen. Krung war
auf beiden Wangen mit winkelförmigen Klingen tätowiert, und Tschenko hatte
einen zähnefletschenden Wolf auf dem kahlen Schädel. (Wenn Tschenko sich vor
einem Gegner verbeugte, sah dieser das unfreundliche Raubtier.)
»Eine ukrainische Tätowierung wahrscheinlich«, sagte Alice
abschätzig. Die Klingen in Krungs Gesicht waren »was Thailändisches«. Beide
hatten gebrochene Herzen auf der Brust, und die waren – das brauchte Jack
niemand zu sagen – Tochter Alice’ Werk.
In der schmuddeligen alten Sporthalle an der Bathurst Street
trainierten etwas mehr Kickboxer als Ringer. Die meisten waren Schwarze und
Asiaten, aber es gab auch ein paar Portugiesen und Italiener. Die beiden jungen
Männer aus Weißrußland waren Taxifahrer und in Minsk geboren – Tschenko nannte
sie »Minskies«. Boris Ginkewitsch und Pawel Markewitsch waren nur spärlich
tätowiert, aber gute Ringer, und Tschenko war ihr Trainer und Betreuer.
Boris und Pawel hatten ihre Tätowierungen dort, wo einige Ringer sie
gern tragen: hoch zwischen den Schulterblättern, so daß sie oberhalb des
Trikots zu sehen waren. Boris hatte das chinesische Zeichen für »Glück«, das
Jack als eine der neuen Tätowierungen seiner Mutter erkannte. Pawel hatte zwischen
den Schulterblättern die Tätowierung eines chirurgischen Instruments, eines
schlanken, spitzen Hakens. Dieser, erklärte er Jack, diene hauptsächlich zum
Halten von Blutgefäßen.
Die Wände der alten Sporthalle zierten einige Flashs von Tochter
Alice und dem Chinesen – es war einer der wenigen Orte in Toronto, wo Werbung
für das Studio des Chinesen zu sehen war. Sogar die Spiegel für das
Hanteltraining waren von Alice’ gebrochenen Herzen eingerahmt, und in der
Umkleide konnte man »Des Mannes Verderben« in allen möglichen Versionen
bewundern, doch die Halle selbst wurde von chinesischen Schriftzeichen und
Symbolen beherrscht. Jack erkannte das Zeichen für [316] »Langes Leben« und die
fünf Fledermäuse, die die sogenannten fünf Schätze symbolisieren. Und dann war da
noch das Markenzeichen des Chinesen: ein zepterartiges kurzes Schwert, das
bedeutete »Wie du willst«.
Jack sagte zu seiner Mutter, das sei das Motiv des Chinesen, das ihm
am besten gefalle, doch sie erwiderte: »Vergiß es.« Ihm gefiel auch die
Zitrusfrucht namens Buddhas Hand, die Alice oder der Chinese auf Krungs
Oberschenkel tätowiert hatte.
In der Sporthalle hingen die chinesischen Zeichen für »Hirsch« und
die Glückszahl 6, außerdem Pfingstrosen, eine chinesische Vase und ein Karpfen,
der über ein Drachentor springt. Das sogenannte Drachentor ist ein Wasserfall,
den der Karpfen, der stromaufwärts strebt, überspringt; dadurch wird er zum
Drachen. Dies war eine Tätowierung, die den gesamten Rücken bedeckte und Tage,
manchmal Wochen in Anspruch nahm. Alice sagte, manchen Leuten mit großflächigen
Rückentätowierungen sei häufig kalt, doch Tatovør-Ole hatte ihr widersprochen:
Nur Leute mit Ganzkörper-Tätowierungen, und zwar keineswegs alle, wären
kälteempfindlich. (Laut Alice galt das für die meisten.)
In der Sporthalle an der Bathurst Street hingen auch eine Mondgöttin
und eine sogenannte Königin des Westens, die nach der taoistischen Legende die
Macht besitzt, Unsterblichkeit zu verleihen. Und das chinesische Zeichen für
doppeltes Glück, das Alice sich inzwischen zu stechen weigerte; dasselbe
Zeichen bedeutete auch »Ehe«, und an die glaubte sie nicht mehr.
Die Halle war früher ein Teppichgeschäft gewesen. Vor den großen
Schaufenstern, die auf die Bathurst Street gingen, blieben mehr Neugierige
stehen als früher. Der Kickbox-Unterricht des ehemaligen Mr. Bangkok genoß in
der Nachbarschaft hohes Ansehen, und Krung war, trotz der Klingen auf seinen
Wangen und Buddhas Hand auf dem Oberschenkel, ein beliebter Lehrer. Es gab
Unterricht für Anfänger und Fortgeschrittene. Jack kam natürlich in eine
Anfängergruppe, und angesichts seines [317] Alters und Gewichts waren seine
Trainingspartner ausschließlich Frauen.
Seine Mutter hatte ihn den fähigen Händen (oder vielmehr Füßen) des
ehemaligen Mr. Bangkok anvertraut, damit er lernte, sich gegen die
Nachwuchsgorillas zu verteidigen, die es in einer bestimmten Altersgruppe – und
besonders an einer reinen Jungenschule – angeblich immer
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