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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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angehalten und Brust an Brust ihre Herzschläge
gespürt hatten. Eines Nachts im Hotel hatte Jack versucht, seine Mutter so zu
umarmen. Alice hatte die Luft nicht anhalten wollen. Er hatte das Klopfen ihres
Herzens gespürt, das langsamer und rhythmischer zu schlagen schien als Lotties,
und gesagt: »Du scheinst am Leben zu sein.«
    »Natürlich bin ich das«, hatte Alice geantwortet, noch unwilliger
als zuvor, als er ihr gesagt hatte, sie solle die Luft anhalten. »Du scheinst
auch am Leben zu sein, Jackie – jedenfalls warst du’s, als ich zuletzt
nachgesehen habe.«
    Ohne daß er hätte sagen können, wie oder wann, hatte sie sich schon
aus der Umarmung des Jungen befreit.
    [45]  Am nächsten Tag vor Sonnenaufgang – in Kopenhagen hieß das zu
dieser Jahreszeit nach acht Uhr – ging Jacks Mutter mit ihm zur Zitadelle
Frederikshavn, dem »Kastellet«. Außer der Kaserne befanden sich dort das
Kommandantenhaus und die Kirche, die Kastelskirken, in der William Burns
gespielt hatte.
    Gibt es einen Jungen, der Festungen nicht liebt? Jack fand es sehr
aufregend, daß seine Mutter ihn zu einer echten Festung mitgenommen hatte. Er
war nur zu bereit, sich selbst zu beschäftigen, wie Alice es ihm vorschlug.
    Sie drückte es so aus: »Ich wäre gern ungestört, wenn ich mit dem
Organisten spreche.«
    Jack konnte sich überall umsehen. Als erstes entdeckte er das
Gefängnis. Es lag hinter der Kastellskirche: An die Mauer der Kirche war ein
Gefängnisflügel gebaut worden; man hatte Löcher in die Mauer geschlagen, damit
die Gefangenen ungesehen den Gottesdienst verfolgen konnten. Jack war
enttäuscht, daß es keine Gefangenen gab, nur leere Zellen.
    Der Name des Organisten war Anker Rasmussen – ein typisch dänischer
Name –, und laut Alice war er so höflich wie entgegenkommend. Jack fand es
später seltsam, daß er eine Uniform trug, doch seine Mutter erklärte ihm, in
der Kirche einer Zitadelle müsse man damit rechnen.
    Während seiner kurzen Lehrzeit bei Rasmussen hatte William
verschiedene Bach-Sonaten sowie dessen Präludium und Fuge in
h-Moll und die Clavierübung III gemeistert. (Jack war beeindruckt, daß seine
Mutter sich an die deutschen Namen der Stücke erinnerte, die sein Vater geübt
hatte.) Auch Couperins Messe pour les Couvents spielte William recht gut, und mit dem Weihnachtsteil aus Händels Messias hatte Alice recht gehabt.
    Über die verführte Frau aus der Gemeinde erzählte ihm seine Mutter
nur wenig – gerade so viel, daß der Junge zu dem Schluß kommen konnte, man habe
seinen Vater nicht wegen eines verpatzten Refrains gebeten, die Kastellskirche
zu verlassen.
    [46]  Als Jack vom Gefängnis genug hatte, ging er hinaus. Es war
eiskalt; das blaßgraue Tageslicht ließ den Himmel nur um so dunkler wirken.
Obwohl Jack es aufregend fand, die Soldaten exerzieren zu sehen, hielt er Abstand
von ihnen und machte sich an die Erkundung des Grabens.
    Das Wasser rings um das Kastellet hieß Kastelsgraven. Für einen
Vierjährigen sah es eher wie ein Teich oder ein kleiner See aus, und zu Jacks
großer Überraschung war das Wasser gefroren. In Oles Studio hatte er gehört,
daß der Kanal am Nyhavn sehr selten zufror und die Ostsee so gut wie nie.
Salzwasser gefror nur, wenn es sehr, sehr kalt war. Was also war in diesem
Graben? Es mußte wohl Süßwasser sein, doch Jack wußte nur, daß es gefroren war.
    Für ein Kind gibt es wenige Wunder, die mit schwarzem Eis mithalten
können. Und woher wußte der Vierjährige, daß das Wasser gefroren war? Er sah,
daß Möwen und Enten darauf herumliefen, und er glaubte nicht, daß diese Vögel
heilig waren. Um sicherzugehen, sammelte er ein paar kleine Steine und warf sie
nach den Vögeln. Die Steine hüpften über das Eis. Nur die Möwen erhoben sich in
die Luft. Die Enten rannten zu den Steinen, als glaubten sie, es seien
Brotstücke, dann watschelten sie wieder davon. Die Möwen landeten wieder auf
dem Eis. Bald ließen sich die Enten nieder, als hielten sie eine Versammlung
ab, und die Möwen trippelten verächtlich um sie herum.
    Die Soldaten marschierten auf und ab, mal näher, mal weiter
entfernt. Am Rand des zugefrorenen Grabens war eine hölzerne Uferbefestigung;
sie sah aus wie ein schmaler Weg, daneben eine Schräge, die bis zum Eis
reichte. Jack kletterte mit Leichtigkeit hinunter. Die Möwen starrten ihn aus
runden Augen herausfordernd an, die Enten ignorierten ihn einfach. Als der
Junge auf das schwarze Eis trat, hatte er das Gefühl, etwas

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