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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Geheimnisvolleres
als seinen Vater entdeckt zu haben. Er ging auf dem Wasser. Selbst die Enten
wandten ihm die Köpfe zu.
    [47]  Als Jack die Mitte des Grabens erreicht hatte, hörte er etwas,
was er für die Orgel der Zitadellenkirche hielt, nur ein paar tiefe Töne, nicht
das, was er als Musik bezeichnet hätte. Vielleicht spielte der Organist ein
paar Noten, um die Geschichte, die er Alice erzählte, effektvoll zu untermalen.
Aber so tiefe Töne hatte Jack noch nie gehört. Es war nicht die Orgel. Der
Kastelsgraven selbst sang dem Jungen etwas vor. Der Graben protestierte gegen
Jacks Anwesenheit, der Graben hatte einen Eindringling entdeckt.
    Bevor das Eis brach, stöhnte es – das Knacken, das dann folgte, war
so laut wie Gewehrschüsse. Zu Jacks Füßen bildete sich ein Spinnweb. Er hörte
die Soldaten schreien, bevor er das eiskalte Wasser spürte.
    Sein Kopf ging nur ein, zwei Sekunden unter, er reckte die Hände
nach oben und packte die Kante des Lochs. Er stützte die Ellbogen auf das Eis,
hatte aber nicht die Kraft, sich aus dem Wasser zu stemmen – das Eis hätte ihn
auch gar nicht getragen. Jack konnte nichts anderes tun, als genau da zu
bleiben, wo er war: halb im eiskalten Wasser, halb auf dem Eis.
    Der Lärm der Soldatenstiefel auf der Uferbefestigung ließ die Möwen
und Enten auffliegen. Die Soldaten riefen Anweisungen auf dänisch, in der
Kaserne läutete eine Alarmglocke. Die allgemeine Aufregung rief auch Alice und
einen Mann herbei, der, wie Jack annahm, der Organist war. Wozu
ist ein Organist in einer solchen Situation zu gebrauchen? dachte Jack.
Aber wenigstens sah Anker Rasmussen – sofern er es wirklich war – mehr wie ein
Soldat als wie ein Musiker aus.
    Alice schrie hysterisch. Jack war besorgt, sie könnte seinen Vater
für das Ganze verantwortlich machen. Irgendwie war er ja auch dafür
verantwortlich, dachte der Junge. Seine eigene Rettung erschien ihm fraglich.
Wenn das Eis ihn nicht getragen hatte, würde es erst
recht keinen Soldaten tragen.
    Doch dann sah Jack ihn, den kleinsten Soldaten von allen. Er [48]  war
nicht unter den ersten gewesen, die am Ufer eingetroffen waren; vielleicht
hatte Anker Rasmussen ihn aus der Kaserne herbeigeholt. Er trug keine Uniform,
nur lange Unterwäsche, als habe er eben noch geschlafen, als sei er krank. Er
zitterte bereits, als er sich über das Eis auf Jack zuschob. Er robbte auf
Ellbogen und Bauch zu ihm, wie es wohl alle Soldaten lernten. Mit klappernden
Zähnen biß er auf den Schulterriemen des Gewehrs, das er hinter sich her zog.
    Als der Soldat das Loch beinahe erreicht hatte, schob er Jack das
Gewehr zu, mit dem Kolben voran. Es gelang Jack, den Schulterriemen mit beiden
Händen zu packen, und dann zog der Soldat am Lauf des Gewehrs, dort, wo das
Bajonett befestigt wurde. Jack glitt aus dem Wasser und über das Eis zu dem
Soldaten.
    Jacks Augenbrauen waren bereits gefroren, und er spürte, wie sich in
seinen Haaren Eis bildete. Er lag auf dem Eis und wollte sich auf alle viere
erheben, doch der kleinste Soldat von allen schrie ihn an.
    »Bleib liegen!« schrie er. Daß er Englisch sprach, überraschte Jack
weniger als die Tatsache, daß er keine Soldatenstimme hatte. Für Jack klang sie
wie die eines anderen Kindes – eines Jungen, der noch kein Teenager ist.
    Jack blieb flach auf dem Bauch liegen und ließ sich von dem Soldaten
wie ein Schlitten zur Uferbefestigung ziehen, wo Alice wartete. Seine Mutter
umarmte und küßte ihn – und unvermittelt ohrfeigte sie ihn. In Jack Burns
Erinnerung war es das einzige Mal, daß seine Mutter ihn geschlagen hatte, und
beim zweiten Schlag brach sie in Tränen aus. Ohne zu zögern, griff er nach
ihrer Hand.
    Er wurde in Decken gewickelt und ins Kommandantenhaus getragen,
konnte sich später allerdings nicht erinnern, den Kommandanten gesehen zu
haben. Der kleinste Soldat von allen kam mit trockenen Sachen für Jack. Sie
waren ihm zu groß, doch es überraschte ihn, daß es keine Uniformteile waren.
    [49]  »Soldaten haben auch Zivilkleider«, erklärte ihm seine Mutter.
Für einen Vierjährigen war das schwer zu begreifen.
    Als Jack und seine Mutter das Kastellet verließen, küßte seine
Mutter den kleinsten Soldaten von allen zum Abschied. Sie mußte sich
hinunterbeugen. Jack sah, daß er sich auf die Zehenspitzen stellte.
    Das war der Augenblick, in dem Jack der Gedanke kam, seine Mutter
solle seinem Retter eine Gratistätowierung anbieten. Soldaten waren auf
Tätowierungen doch sicher ebenso

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