Bis ich dich finde
bei Notenschrift
keine Schattierungen gab. Williams Tätowierungen waren einfach schwarz, es gab
offenbar keine Abstufungen.
Ole drückte es so aus: »Alles an ihm war
schwarz.«
Vermutlich schloß Jack aus dieser Bemerkung – sofern er sie
überhaupt hörte –, daß sein Vater immer schwarze Kleider trug. (Aber
Tatovør-Ole mochte Tochter Alice sehr gern, und so bezog sich das Wort
»schwarz« möglicherweise auf Williams treuloses Herz.)
Doch den Spitznamen, den Tatovør-Ole seinem Vater gegeben hatte,
hörte der Junge sehr wohl: »Der Musikmann.«
Ole hatte Weihnachtsmusik von Johann Sebastian Bach auf Williams
rechte Schulter geschrieben, wo sich die Tätowierung gewellt wie ein Stück
Fahnentuch präsentierte. Entweder aus dem Weihnachtsoratorium oder aus den Canonischen Veränderungen über das
Weihnachtslied, vermutete Alice. Sie kannte viele der Stücke, die der
junge Organist am liebsten spielte. Und im Nierenbereich, wo das Tätowieren
besonders schmerzhaft ist, hatte Ole eine recht lange und komplizierte Phrase
von Händel gestochen.
[38] »Noch mehr Weihnachtsmusik«, sagte Ole geringschätzig. Alice
fragte sich, ob das Stück aus dem Weihnachtsteil des Messias stammte.
Ole äußerte sich kritisch über zwei Tätowierungen, die William
bereits gehabt hatte und die natürlich nicht von Aberdeen-Bill stammten. (Ole
bewunderte den Osterchoral auf Williams rechtem Oberschenkel sehr.) Und dann
war da noch das Fragment eines anderen Chorals, das sich um den linken
Unterschenkel schmiegte wie ein Strumpf ohne Fußteil. Hier gab es auch Worte zu
den Noten, und Herzensbrecher-Madsen war von der Tätowierung so beeindruckt
gewesen, daß er sich an den Text erinnerte. Es war ein anglikanisches
Kirchenlied: »Erlöse mich, du Odem Gottes«.
Alice kannte es. Es klang eher wie ein Sprechgesang, doch sie nannte
es einen Choral, weil Choräle, wie sie sagte, lediglich vertonte Gebete waren.
(Sie hatte ihn Jack vorgesungen; sie hatte ihn mit William geprobt.) Aus dem
hohen Lob, das Tatovør-Ole und der Herzensbrecher der Odem-Gottes-Tätowierung
zollten, schloß Alice, daß sie Charlie Snows oder Matrosen-Jerrys Werk war.
Ihre alten Freunde hatten ihr eine detaillierte Beschreibung der Tätowierungen,
die William sich in Halifax hatte machen lassen, erspart.
Lars fand die beiden mißlungenen Tätowierungen des Musikmanns nicht
so schlimm wie Ole, gab jedoch zu, die Nadelführung sei nichts Besonderes. Auf
Williams linker Hüfte standen weitere Noten, doch der Tätowierer hatte nicht
bedacht, daß eine Beugung der Hüfte einige davon zusammenpressen würde.
Aufgrund dieser spärlichen Indizien nahm Alice an, daß William bei
Beachcomber Bill in Toronto gewesen war – obgleich sie später einräumte, daß
ein solcher Fehler auch dem Chinesen hätte unterlaufen können. Den anderen
Fehler – einige Noten lagen auf der Unterseite von Williams rechtem Bizeps und
entzogen sich so dem Blick – traute sie beiden Männern zu.
[39] Tatovør-Ole und Herzensbrecher-Madsen vermittelten Jack und
seiner Mutter einen recht guten Eindruck davon, wie der Musikmann seinen Körper
gestaltete. Er war tatsächlich tintensüchtig – ein Sammler, wie Aberdeen-Bill
prophezeit hatte.
»Aber was ist mit seiner Musik?« fragte
Alice.
»Was soll damit sein?« erwiderte Ole.
»Er muß irgendwo Orgel spielen«, sagte Alice. »Ich nehme doch an,
daß er einen Job hat.«
Jack Burns erinnerte sich recht genau an die Stille, nicht aber an
das Gespräch, das dann folgte. Zum einen war es in Tatovør-Oles Studio
eigentlich nie ganz still, denn das Radio spielte immer irgendeine
Unterhaltungsmusik. Und in dem Augenblick, als Jacks Mutter die Frage nach dem
Aufenthaltsort seines Vaters aufbrachte, die – das begriff Jack schon mit vier
Jahren – im Zentrum ihres Lebens stand, surrten drei Maschinen.
Tatovør-Ole arbeitete an einer seiner nackten Frauen, einer
Meerjungfrau, also ohne die umgedrehte Augenbraue, die Alice so mißfiel. Der
Kunde, ein alter Seemann, schlief oder war tot; er lag vollkommen reglos da,
während Ole die Konturen der Schuppen auf dem Schwanz stach. (Es war ein
Fischschwanz, der in weiblich geformten Hüften auslief – auch dies etwas, was
Alice nicht gefiel.)
Herzensbrecher-Madsen war ebenfalls beschäftigt: Er schattierte eine
von Oles Seeschlangen auf einem Schweden. Es schien sich um eine Würgeschlange
zu handeln, denn sie umschlang ein berstendes Herz.
Alice legte letzte Hand an ihre berühmte Rose
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