Bis ich dich finde
dankbar, daß er sich so umsichtig um Jack
gekümmert hatte. »Das war gratis«, sagte sie, als sie sein gebrochenes Herz
bandagierte.
Jack wußte nicht, welches Geschenk Ole von Alice bekommen hatte.
Vielleicht gab es für ihn gar kein Geschenk – auch nicht Alice’ begehrte Rose
von Jericho, eine Tätowierung, die Ole sehr bewunderte.
[52] An ihrem letzten Abend in Kopenhagen schloß Ole sein Studio
früher als sonst und lud alle zu einem Abendessen in einem feinen Restaurant am
Nyhavn ein. Es hatte einen offenen Kamin, und Jack aß Kaninchen.
»Wie kannst du nur so ein süßes kleines Kaninchen essen?« fragte
seine Mutter.
»Laß ihn doch«, sagte Lars.
»Weißt du was, Jack?« sagte Tatovør-Ole. »Das ist bestimmt kein
süßes kleines Kaninchen. In Dänemark gibt’s nämlich nur Hasen.«
»Und die sind alle tätowiert!« rief Herzensbrecher-Madsen.
In einem unbeobachteten Augenblick untersuchte Jack das Fleisch auf
seinem Teller auf Tätowierungen, fand aber keine. Er aß weiter, aber
wahrscheinlich trank er nicht genug Weihnachtsbier.
Mitten in der Nacht hatte er einen Alptraum. Nackt und zitternd fuhr
er hoch. Er war soeben im Eis eingebrochen und im Kastelsgraven ertrunken. Noch
schrecklicher war, daß er auf dem Grund des Grabens all die Soldaten fand, die
im Lauf der Jahrhunderte dort ertrunken waren. Das kalte Wasser hatte dafür
gesorgt, daß sie vollkommen erhalten waren. Merkwürdigerweise war unter den
Toten auch der kleinste Soldat von allen.
Wie immer brannte das Licht im Badezimmer, damit Jack sich
zurechtfand. Er schob die beiden Milchglastüren auf und trat in das Zimmer
seiner Mutter. Wenn er schlecht geträumt hatte, durfte er zu ihr ins Bett
schlüpfen.
Jemand war ihm zuvorgekommen! Am Fußende des Bettes seiner Mutter,
das ebenso schmal war wie seines, ragten ihre Füße mit nach oben weisenden
Zehen unter der Decke hervor. Zwischen ihren Füßen sah Jack die Sohlen zweier
anderer Füße – und deren Zehen zeigten nach unten.
Zunächst und ohne ersichtlichen Grund nahm Jack an, es seien die
Füße von Herzensbrecher-Madsen, doch bei näherer [53] Betrachtung stellte er
fest, daß zu den nackten Füßen zwei untätowierte Knöchel gehörten. Außerdem waren die Füße zwischen den Füßen seiner Mutter zu
klein, um die von Lars zu sein. Sie waren noch kleiner als die von Alice. Sie
waren beinahe so klein wie die von Jack!
In dem Licht, das aus dem Badezimmer drang, fiel dem Jungen noch
etwas ins Auge: Auf dem Stuhl, auf dem seine Mutter oft ihre Kleider ablegte,
lag eine Uniform, die aussah, als könnte sie ihm passen. Als er sie anzog,
stellte er jedoch fest, daß sie größer war, als er geschätzt hatte. Er mußte
die Hosenbeine aufkrempeln und den Gürtel auf das letzte Loch schnallen, und
die Schultern von Hemd und Jacke waren viel zu breit. Die Epauletten berührten
seine Oberarme, und seine Hände verschwanden in den Ärmeln.
Wenn er hätte raten müssen, hätte Jack wohl gesagt, daß die Uniform
des kleinsten Soldaten von allen mindestens eine Nummer größer war als seine
anderen Kleider, von denen Jack sich nach seinem Mißgeschick im Wassergraben ja
einige ausgeliehen hatte. (Die Zivilkleider des
Soldaten, hatte seine Mutter gesagt.)
Unbeirrt von diesem Kleiderrätsel, das im Augenblick auch gänzlich
unwichtig schien, beschloß Jack, neben dem Bett seiner Mutter Habachtstellung
anzunehmen. Wenn sie und der kleinste Soldat von allen erwachten, würde er
salutieren wie ein Soldat. (Angesichts der Kostümierung und der Absicht des Jungen
fand seine Mutter später, dies sei Jacks erster Auftritt als Schauspieler
gewesen.) Während er in Habachtstellung dastand, merkte er, daß die beiden
keineswegs schliefen. Die sachten Bewegungen des Bettes waren ihm anfangs
entgangen. Zwar hielt seine Mutter die Augen geschlossen, doch sie war wach:
Der Mund war halb geöffnet, ihr Atem ging schnell und flach, und ihre
Halsmuskeln waren angespannt.
Von dem kleinsten Soldaten von allen waren nur die Füße zu [54] sehen.
Sein Kopf mußte in etwa zwischen Alice’ Brüsten liegen, und die waren unter der
Bettdecke. Jack vermutete, daß er sich gerade von einem Alptraum erholte. (Das
würde auch das Beben des Bettes erklären.) Außerdem wußte Jack, daß es eine
Alptraumnacht war – immerhin hatte er selbst gerade einen gehabt. Für den
Jungen war völlig klar, daß der kleinste Soldat von allen ebenfalls einen
Alptraum gehabt hatte und darum in Alice’ Bett geschlüpft war.
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