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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Chormädchen«, sagte Ole. »Sie war aus der Gemeinde.«
    »Die junge Frau eines Soldaten«, sagte Herzensbrecher-Lars, aber
Jack hatte ihn sicher falsch verstanden. Der Junge starrte noch immer mit offenem
Mund auf die Brustwarze in dem Martiniglas, so gebannt, als säße er vor einem
Fernseher. Er sah nicht, wie seine Mutter Lars mit einem
Nicht-wenn-Jack-dabei-ist-Blick ansah.
    »Dann hat er die Stadt also verlassen?« fragte Alice.
    »Du solltest in der Kirche nachfragen«, sagte Ole.
    »Ihr habt wahrscheinlich nicht gehört, wohin er gegangen ist«, sagte
Alice.
    »Nach Stockholm, hab ich gehört, aber ich bin mir nicht sicher«,
sagte Ole.
    Lars, der mit der Schlange des Schweden fertig war, sagte: »In
Stockholm kriegt er keine anständige Tätowierung. Wenn sie sich tätowieren
lassen wollen, kommen die Schweden zu uns.« Er sah seinen Kunden an.
»Stimmt’s?«
    Der Schwede zog das linke Hosenbein hoch. »Das hier hab ich mir in
Stockholm machen lassen«, sagte er.
    Auf seiner Wade war eine hervorragende Tätowierung. Sie war so gut,
daß sie auch von Tatovør-Ole oder Tochter Alice hätte stammen können. Ein Dolch
mit reichverziertem grün-goldenem Griff durchbohrte eine Rose; sowohl die
Blütenblätter als auch das Dolchheft waren orangerot konturiert, und um Rose
und Dolch wand sich eine grün-rote Schlange. (Offenbar hatte der Schwede eine
Vorliebe für Schlangen.)
    [43]  Der Gesichtsausdruck von Jacks Mutter verriet, daß sie die
Nadelführung bewunderte. Sogar Tatovør-Ole sagte, die Tätowierung sei gut.
Herzensbrecher-Madsen war sprachlos vor Neid. Vielleicht dachte er auch an
seine beinahe sichere Zukunft im Fischgeschäft der Familie.
    »Das war Doc Forest«, sagte der Schwede.
    »In welchem Studio arbeitet er?« fragte Ole.
    »Ich wußte gar nicht, daß es in Stockholm überhaupt ein Studio
gibt!« sagte Lars.
    »Er arbeitet zu Hause«, erklärte der Schwede.
    Jack wußte, daß sie nicht vorhatten, nach Stockholm zu fahren. Die
Stadt stand nicht auf der Liste seiner Mutter.
    Alice bandagierte behutsam den Jungen. Er hatte sich die Rose von
Jericho auf die Brust tätowieren lassen, damit die Blütenblätter sich bewegten,
wenn er atmete.
    »Versprich mir, daß du das nicht deiner Mutter zeigst«, sagte Alice
zu ihm. »Und wenn du’s tust, daß du ihr nicht sagst, was es ist. Laß sie es
nicht zu lange ansehen.«
    »Versprochen«, sagte der Junge.
    Der alte Seemann bewegte den Unterarm und sah zufrieden, wie der
Schwanz der Meerjungfrau, der noch koloriert werden mußte, durch die Anspannung
der Muskeln hin und her schwang.
    Es war kurz vor Weihnachten, und das Geschäft ging gut, doch die
Nachricht, daß William abermals entwischt war – ausgerechnet nach Stockholm –,
war wenig geeignet, Alice’ oder Jacks Stimmung zu heben.
    Und wenn sie das Studio am Nyhavn verließen, war es immer schon
dunkel, selbst um vier oder fünf Uhr nachmittags. Ganz gleich, wie spät es war
– in den Restaurants am Nyhavn gab es immer warmes Essen. Inzwischen konnten
Alice und Jack die Düfte unterscheiden: Kaninchen, Rehkeule, Wildente,
gebratener Steinbutt, gegrillter Lachs, ja sogar den zarten Geruch von
Kalbfleisch. Sie rochen die Früchte in den Wildsaucen, und viele [44]  dieser
dänischen Käse hatten ein Aroma, das auch auf einer winterlichen Straße
wahrzunehmen war.
    Sie zählten immer die Schiffe, die an der Kanalmauer vertäut waren,
um zu sehen, ob sie auf ihre Glückszahl kamen. Vielleicht weil es kurz vor
Weihnachten war, erschien ihnen der erleuchtete Bogen über dem Denkmal auf dem
Platz, an dem das d’Angleterre stand, wie ein verläßlicher Schutz. Das Hotel selbst
war mit Adventskränzen geschmückt.
    Auf dem Weg zu ihren Dienstbotenzimmern kehrten Jack und seine
Mutter oft irgendwo ein und tranken ein Weihnachtsbier. Es war dunkel und süß
und so stark, daß Alice Jacks Bier mit Wasser verdünnte.
    Einer von Alice’ Kunden bei Tatovør-Ole – ein Banker, der sich
verschiedene ausländische Geldscheine auf Brust und Rücken hatte tätowieren
lassen – hatte ihr gesagt, Weihnachtsbier sei gut für Kinder, denn es
verhindere Alpträume. Der Junge mußte, nachdem er das Bier probiert hatte,
zugeben, daß das Mittel des Bankers gegen schlechte Träume tatsächlich zu
wirken schien. Er hatte seit einiger Zeit keine Alpträume mehr – oder
jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte.
    In seinen Träumen fehlte ihm Lottie: wie sie ihn an sich gedrückt
hatte, wie sie beide den Atem

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