Bis ich dich finde
versessen wie Seeleute. Alice fand diesen
Vorschlag anscheinend amüsant. Sie ging noch einmal zu dem kleinsten Soldaten
von allen, doch diesmal beugte sie sich nicht zu ihm hinunter, um ihn zu
küssen, sondern um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Er war sichtlich begeistert;
ihr Angebot sagte ihm offenbar zu.
Wie sich erwies, hatten Alice und Jack noch andere Gründe, nach
Stockholm zu fahren, als den talentierten Doc Forest. Anker Rasmussen hatte
Alice erzählt, daß Erik Erling, der Organist der Hedvig-Eleonora-Kirche in
Stockholm, vor drei Jahren gestorben sei. Ein brillanter vierundzwanzigjähriger
Organist namens Torvald Torén habe seinen Platz eingenommen, und angeblich
suche er einen Hilfsorganisten.
Alice zeigte sich erstaunt, daß William bereit war, als Gehilfe
eines Organisten zu arbeiten, der jünger war als er selbst. Anker Rasmussen sah
das anders: William war talentiert und clever genug, um ein guter Organist zu
sein; jetzt war es an der Zeit, zu reisen, auf verschiedenen Orgeln zu spielen,
so viel wie möglich von anderen zu lernen und sich ihre Kniffe anzueignen.
Rasmussen glaubte, daß es nicht nur die Frauengeschichten waren, die William
von einem Ort zum anderen trieben.
Alice fand Anker Rasmussens Theorie irritierend. Sie hatte sich in
William Burns wegen seines Orgelspiels verliebt, doch die Möglichkeit, dieses
Instrument könnte seinerseits ihn verführt [50] haben, hatte sie nie in Betracht
gezogen. Suchte William die immer bessere, größere Orgel? Oder suchte er die
Abwechslung? Liebte er Orgeln so, wie Mädchen Pferde lieben? (Der Gedanke, daß
William seine Lehrer ebensogern wechselte wie seine Frauen, irritierte Alice
zweifellos noch mehr.)
Jack nahm an, daß sie sogleich nach Stockholm aufbrechen würden,
aber seine Mutter hatte andere Pläne. In der Weihnachtszeit war bei Ole viel
Geld zu verdienen. Wenn ein Tätowierer, der so gut war wie Doc Forest, zu Hause
arbeitete, waren Studios in Stockholm vermutlich verboten. Alice glaubte, daß
es nicht leicht werden würde, dort etwas zu verdienen. Sie kam zu dem Schluß,
daß es das beste war, die Weihnachtszeit bei Tatovør-Ole zu nutzen, bevor sie
und Jack ihre Reise fortsetzten.
Es war ein langer Abschied vom Nyhavn 17. Jack konnte sich nicht
erinnern, auf der Straße vor Tatovør-Oles Studio für ein Foto posiert zu haben,
doch das Klicken des Apparats war ihm nur zu vertraut. Offenbar hatte jemand
Fotos gemacht.
Alice war bei den Kunden – viele davon Seeleute, die für die
Weihnachtstage Landurlaub hatten – so beliebt, daß sie bis spät in die Nacht
arbeitete. Herzensbrecher-Madsen war weniger gefragt. Oft begleitete er Jack
zum Hotel d’Angleterre, während Alice weiter tätowierte.
Lars saß in Jacks Zimmer auf dem Bett, während der Junge sich die
Zähne putzte, und dann erzählte er eine Geschichte, bis Jack eingeschlafen war.
Madsens Geschichten hielten Jack nie lange wach. Es waren Geschichten voller
Selbstmitleid aus Lars’ Kindheit. (Meist ging es um irgendwelche Mißgeschicke
mit Fischen, die sich, wie Jack fand, leicht hätten vermeiden lassen; dennoch
waren diese Katastrophen für Lars von ungeheurer Bedeutung.)
Wenn der Junge in seinem Zimmer schlief – es war das schmalere der
beiden, von Alice’ Zimmer durch ein Badezimmer mit [51] Schiebetüren getrennt –,
saß Herzensbrecher-Madsen auf dem Klo und las Zeitschriften. Jack wachte
manchmal auf und sah seine Silhouette durch das Milchglas der Badezimmertür.
Oft schlief Lars ein, den Kopf auf den Knien, und Alice mußte ihn wecken, wenn
sie heimkam.
Auf seine Bitte stach Alice ihm eine Tätowierung. Er wollte ein
gebrochenes Herz über seinem Herzen, das, wie er behauptete, ebenfalls
gebrochen war. Alice machte ihm ein puterrotes Herz, das waagrecht
durchgebrochen war; zwischen den gezackten Bruchkanten war genug Platz für
einen Namen, doch sowohl Alice als auch Tatovør-Ole rieten Lars davon ab. Das
gebrochene Herz legte ausreichend Zeugnis ab von seinem Schmerz.
Aber Lars wollte Alice’ Namen. Sie weigerte sich. »Dein Herz ist
nicht wegen mir gebrochen«, erklärte sie, aber
vielleicht irrte sie sich.
»Ich habe gemeint«, sagte Herzensbrecher-Madsen mit unerwarteter
Würde, »ich habe gemeint, deinen Künstlernamen.«
»Ah, eine signierte Tätowierung!« rief
Ole.
»Na gut, das ist was anderes«, sagte Alice.
In die sehr helle Haut zwischen den beiden Hälften des Herzens stach
sie in Kursivschrift:
Tochter Alice
Alice war Madsen
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