Bis ich dich finde
von Jericho. Es war
ein regelrechtes Schmuckstück, das den linken Brustkorb eines halbwüchsigen
Jungen halb bedeckte. Alice fand, daß er zu jung war, um zu wissen, was eine
Rose von Jericho war. Jack war viel zu jung, um es zu wissen. Man hatte ihm
erklärt, eine Rose von Jericho sei eine Rose, in der etwas verborgen sei.
»Eine Rose mit einem Geheimnis«, hatte seine Mutter gesagt.
[40] In den Blütenblättern der Rose sind die jener anderen Blume
verborgen. Man kann in einer Rose von Jericho Schamlippen entdecken, wenn man
weiß, wonach man suchen muß. Je schwerer sie auszumachen sind, desto besser ist
die Tätowierung, erfuhr Jack später. (Und in einer guten Rose von Jericho
springen einem die Schamlippen, wenn man sie erst einmal entdeckt hat,
regelrecht entgegen.)
Drei Tätowiermaschinen machen recht viel Lärm, und der Junge, der
die Rose von Jericho bekam, weinte schon seit einiger Zeit hörbar. Alice hatte
ihn gewarnt, daß die Schmerzen vom Brustkorb bis zur Schulter ausstrahlen
würden.
Doch als Alice sagte: »Ich nehme doch an, daß er einen Job hat«,
glaubte Jack für einen Augenblick, es habe einen Stromausfall gegeben. Selbst
das Radio verstummte.
Wie kann es sein, daß drei Tätowierer ohne ein Kommando oder
verabredetes Signal gleichzeitig die Füße von den Fußschaltern nehmen? Die drei
Maschinen hielten inne, der Fluß von Tinte und Schmerz wurde unterbrochen. Der
komatöse Seemann öffnete die Augen und musterte die unfertige Meerjungfrau auf
seinem geröteten Unterarm. Der Schwede, dessen herzumschlingende Schlange – die
ausgerechnet über seinem Herzen saß – farbig schattiert wurde, sah Lars fragend
an. Der weinende Junge hielt den Atem an. Waren die Sitzung und seine Schmerzen
endlich vorüber?
Nur das Radio setzte wieder ein. (Jack erkannte das Weihnachtslied,
auch wenn es auf dänisch gesungen wurde.) Da niemand ihr antwortete,
wiederholte Alice ihre Frage. »Er muß irgendwo Orgel spielen«, sagte sie. »Ich
nehme doch an, daß er einen Job hat.«
»Er hatte einen«, sagte Ole.
Dieses »hatte« bewirkte, daß Jack sich fragte, ob sie wieder einmal
zu spät gekommen waren, um seinen Vater zu treffen, doch der Vierjährige hatte
das vielleicht falsch verstanden. Er [41] war überrascht, daß seine Mutter
anscheinend nicht enttäuscht war. Ihr Fuß drückte auf den Schalter, und sie
machte sich wieder daran, die Schamlippen zwischen den Rosenblättern zu
verbergen. Der Junge fuhr fort zu klagen, der alte Seemann, der geduldig auf
die Vollendung seiner Meerjungfrau wartete, schloß die Augen. Lars schattierte
und sorgte dafür, daß die Schlange sich enger um das Herz über dem Herzen des
Schweden legte.
Die Wände von Tatovør-Oles Studio waren mit Schablonen und
handgezeichneten Vorlagen bedeckt, die man »Flashs« nannte. Jack starrte auf
eine Wand voller Flashs, während Ole einige Einzelheiten der Geschichte des
flüchtigen Vaters erzählte. (Es war einer der Augenblicke, in denen die
Aufmerksamkeit des Jungen abschweifte.)
»Er hat die Orgel in der Kastelskirken gespielt«, sagte Ole. »Aber
nicht als erster Organist, wohlgemerkt.«
»Vermutlich war er Hilfsorganist«, sagte Alice.
»So was wie ein Lehrling«, warf Lars ein.
»Ja, aber er war gut«, sagte Ole. »Ich muß zwar zugeben, daß ich ihn
nie gehört habe, aber man hat mir gesagt, daß er gut war.«
»Und das war wohl nicht das einzige, worin er gut war –«, begann
Lars.
»Nicht wenn Jack dabei ist«, unterbrach ihn Alice.
Die Flashs an dem Stück Wand, dem Jacks Aufmerksamkeit galt, waren
allesamt Vorlagen zum Thema »Des Mannes Verderben« und zeigten verschiedene
Formen männlicher Selbstzerstörung: Glücksspiel, Alkohol und Frauen. Am besten
gefiel dem Jungen das Martiniglas mit der weiblichen Brustwarze, die wie eine
Olive aus der Flüssigkeit ragte, oder das, bei dem ein weiblicher Hintern eine
ähnliche Rolle spielte. Auf beiden Bildern schwammen, als wären sie aus Eis,
zwei Spielwürfel im Glas.
Jacks Mutter machte ein erstklassiges »Des Mannes Verderben«,
allerdings etwas anders als die hier gezeigten. In ihrer Version trank eine
nackte Frau – selbstverständlich eine [42] Rückenansicht – aus einer halbvollen
Flasche Wein. Die Würfel lagen auf ihrer ausgestreckten Hand.
»Dann gab es in der Kastelskirken also Schwierigkeiten ?«
fragte Alice.
Herzensbrecher-Madsen nickte neidisch.
»Nicht wenn Jack dabei ist«, war Oles Antwort.
»Ich verstehe«, sagte Alice.
»Kein
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