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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vielleicht
fehlte Jack der nötige Abstand, um das auch so zu sehen.
    Er beschloß, mit Claudia zu St. Hilda zu fahren – nicht nur, damit
sie seine alte Schule sah, wo er in Hinblick auf ältere Frauen so prägende
Erlebnisse gehabt hatte, sondern auch, damit sie seine Lieblingslehrer und
-lehrerinnen kennenlernte. Was für ein Fehler! Alle Mädchen waren unnatürlich
jung. (Kein Wunder – Jack und Claudia waren immerhin zwanzig!)
    Jack stellte Claudia als erstes Mr. Malcolm vor, der die Schule wie
stets in aller Eile verließ und seine Frau im Rollstuhl vor sich herschob.
Rollstuhl-Jane, die Claudia ja nicht sehen konnte, streckte die Hände aus und
betastete Claudias Hüften, ihre Taille und sogar ihre Brüste. (Vielleicht ist
niemand so kühn wie eine Blinde.) »Er tritt in die Fußstapfen seines Vaters,
stimmt’s?« sagte sie zu ihrem Mann.
    Jack war noch immer dabei, Claudia den Hintergrund dieser Bemerkung
zu erklären, als Mr. Ramsey aus der Jungentoilette trat. »Jack Burns!« rief er
und zog den Reißverschluß zu. »Der Schutzheilige aller Bräute auf Bestellung!«
Diese Bemerkung, wurde Jack bewußt, würde noch schwerer zu erklären sein.
Claudia schien der kleine Mann, der unaufhörlich auf den Fußballen wippte, auf
die Nerven zu gehen.
    Mr. Ramsey bestand darauf, sie zu der Theaterprobe mitzunehmen, die
nach dem Unterricht stattfand. Die Mädchen der Senior School führten Das Tagebuch der Anne Frank auf, was in Claudia, wie Jack
vermutete, bittere Erinnerungen wachrief. In der High School hatte sie für die
Rolle dieses unglücklichen Mädchens vorgesprochen, sie aber nicht bekommen,
weil sie bereits zu alt gewesen war. (Ihr Busen war schon damals zu groß.)
    [451]  Mr. Ramsey stellte Jack vor: Seit Menschengedenken habe es in St.
Hilda keinen besseren männlichen Schauspieler gegeben – wobei er die Tatsache
unterschlug, daß Jacks Ruhm sich auf Frauenrollen gründete. Claudia war Jacks
Freundin, ebenfalls Schauspielerin. »Sie sind wegen des Filmfestivals nach
Toronto gekommen!« rief Mr. Ramsey, was die hingerissenen Mädchen glauben ließ,
die beiden seien auf Werbetournee für einen neuen Film. Wenn man Mr. Ramsey
hörte, hätte man meinen können, Jack und Claudia seien aufgehende Sterne am Filmhimmel.
    Jack dachte daran, wie er sich geärgert hatte, als Claudia nicht
bereit gewesen war, sich als berühmten russischen Filmstar ohne alle
Englischkenntnisse auszugeben. Ihr fehlte der Mut zur Improvisation – ohne Text
war sie verloren. Und sie erschien nicht nur älter, als sie in Wirklichkeit
war, sondern neigte auch dazu, ein falsches Alter anzugeben. »Ich bin Anfang
Dreißig, und mehr möchte ich dazu nicht sagen«, lautete ihre Auskunft. Das war
ein guter Satz, aber völliger Unsinn – und bis zur Wahrheit waren es noch zehn
Jahre, mindestens.
    Die Mädchen von St. Hilda sahen verzweifelt aus. Jack Burns war ganz
eindeutig ein Objekt ihrer Begierde, aber er war mit dieser sinnlichen Frau
zusammen, die ihnen das Gefühl gab, sexuell zurückgeblieben zu sein. Um die
Sache noch schlimmer zu machen, forderte Mr. Ramsey Jack und Claudia auf, ihnen
eine Probe ihres Könnens zu geben. (Jack hatte ihm geschrieben, er und Claudia
seien zusammen aufgetreten.)
    Wider besseres Wissen ließ Jack sich von Claudia überreden, einen
Kit-Kat-Song zu singen. »Mein Herr« war Claudias Wahl, nicht seine; für St.
Hilda sei es ein bißchen gewagt gewesen, sagte er ihr später. (Angesichts des
Stücks, das die Mädchen einstudierten, fand er die Tatsache, daß Claudia und er
einen Song aus diesem schmierigen Nazi-Nachtclub in Berlin sangen, im
nachhinein geradezu atemberaubend gefühllos.) Noch verwirrender war, daß sie
beide »Mein Herr« sangen, als wären sie Sally [452]  Bowles, wobei für Claudia
deutlich wurde, wie gern Jack ihre Rolle gespielt hätte.
    Als sie das schlüpfrige Lied beendet hatten, hüpfte Mr. Ramsey
geradezu vor Begeisterung. Die Mädchen schmachteten, starben vor Neid oder
wollten vor Verlegenheit im Boden versinken. Dann sagte Claudia, sie und Jack
sollten die Mädchen nun wohl lieber wieder die Proben zu Das
Tagebuch der Anne Frank fortsetzen lassen.
    Doch Mr. Ramsey schmerzte der Gedanke, sie könnten jetzt schon
gehen. Er wollte wissen, was sie von dem Festival und den Filmen hielten, die
sie gesehen hatten. »Habt ihr den Godard gesehen? Maria und
Joseph oder so«, sagte Mr. Ramsey. »Der Papst hat ihn verurteilt.«
    »Jack hat ihn ebenfalls verurteilt, allerdings ohne ihn

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