Bis ich dich finde
im
Publikum machte ihm eine Gänsehaut.
Claudias und Jacks Noten waren so gut, daß sie es sich leisten
konnten, ein paar Seminare ausfallen zu lassen, um zum Filmfest nach Toronto zu
fahren. Ihre Lehrer erlaubten ihnen, anstelle der versäumten Hausaufgaben über
die Filme, die sie sich ansahen, [448] zu schreiben. Es war das erste und letzte
Mal, daß Jack sich als Filmkritiker betätigte.
Als er mit Claudia zum ersten Mal im Studio seiner Mutter war, damit
sie Alice kennenlernte, bezweifelte er ihre Behauptung, sie habe Raul Julia aus
einer Herrentoilette im Park Plaza treten sehen. Alice dagegen schlug sich
sofort auf Claudias Seite. Jack wußte, daß es bei Filmfestivals zu allen
möglichen wirklichen und eingebildeten Begegnungen kam, doch er wollte, daß
seine Mutter und Claudia sich mochten, und hielt den Mund.
Alice tätowierte gerade einen kleinen Skorpion auf den Bauch einer
jungen Frau. Er reckte seinen dünnen, gegliederten Schwanz über den Rücken nach
vorn; der Giftstachel am Schwanzende war genau unter dem Bauchnabel der Frau,
während seine Greifzangen knapp über ihrem Schamhaar lagen. Die junge Frau war
offensichtlich gestört – sie würde selbst unter günstigsten Umständen schwierig
sein, dachte Jack, sagte aber nichts. Er sah, daß Claudia von der Atmosphäre im
Studio fasziniert war, und wollte nicht derjenige sein, der Zweifel an der
angeblichen Begegnung mit Raul Julia oder der Plazierung dieser abschreckenden
Tätowierung äußerte.
Das Filmfestival belebte Alice’ Geschäft. Sie erzählte, sie habe
gerade einen hartgesottenen Filmfan tätowiert, als draußen, auf der Queen
Street, Glenn Close vorbeigegangen sei. Auch das bezweifelte Jack stark. Er
glaubte nicht, daß Glenn Close durch die Gegend um Queen Street und Palmerston
Avenue schlendern würde, sagte aber nur: »Ich bin überrascht, daß sie sich
nicht gleich eine Rose von Jericho hat stechen lassen.«
Claudia, die Alice – wie von Emma vorhergesehen – sogleich
sympathisch fand, ärgerte sich über seinen Ton, den sie respektlos fand. Das
sorgte für eine gewisse Spannung zwischen Jack und Claudia, zumal sie auch zu
unterschiedlichen Urteilen über Mein wunderbarer Waschsalon kamen, einen Film, den Alice, Mrs. Oastler und Claudia dann auch wunderbar
fanden.
[449] Im Gegensatz zu Jack. Ebensowenig mochte er Desert
Hearts, den sogar Leslie Oastler als lesbische Liebesschnulze
bezeichnete – sie hatte den Film unbedingt sehen wollen. (Alice’ Begeisterung
hielt sich sichtlich in Grenzen.) Der Saal war voller händchenhaltender Frauen.
Claudia, die sich bei allen Filmen, die sie sich mit Alice und Mrs. Oastler
ansahen, weigerte, seinen Penis zu halten, nahm bei Desert
Hearts nicht einmal seine Hand. Es war, als dächte sie darüber nach,
selbst einmal nach Reno zu fahren, und zwar ohne ihn; vielleicht stellte sie
sich vor, sie könnte mit Helen Shavers Hilfe ihr eigentliches Ich entdecken
oder so.
Er sagte nur: »Die Figuren sind ein bißchen verschwommen.« Alle drei
Frauen stürzten sich auf ihn: Er sei homophob, er fühle sich durch Lesben
bedroht. »Ich mag Helen Shaver«, versicherte er ihnen, doch das nützte ihm gar
nichts.
Ein Mann, der sich bei einer Premierenparty an Claudia heranmachen
wollte, sagte, dieses Festival sei der Beginn eines asiatischen Filmbooms. Jack
hielt es für das beste, gar nichts zu sagen; er legte nur die Hand in einer
eindeutig unplatonischen Geste an Claudias Hintern. Als Claudia zur Toilette
ging, bedachte Jack den Mann, der vom asiatischen Filmboom geschwafelt hatte,
mit seinem Toshiro-Mifune-Blick, worauf der andere schleunigst im Getümmel
verschwand.
Alice und Leslie hielten Jack vor, er sei zu »besitzergreifend«. Sie
sagten, Claudia sei ihnen sehr sympathisch. Sie sagten, keine Frau möge es, in
der Öffentlichkeit berührt zu werden – jedenfalls nicht in dem Maße, in dem
Jack Claudia berühre. (Dieser Rat kam ausgerechnet von einem Paar, das während
Jacks großem Auftritt in Eine Braut auf Bestellung händchenhaltend und füßelnd in der ersten Reihe gesessen hatte.)
Jack war es leid, mit seiner Mutter und Mrs. Oastler ins Kino und
auf Partys zu gehen. An jenem Abend, im Bett, beklagte er sich bei Claudia. Sie
schliefen in Emmas Zimmer. (»Das Bett [450] dort ist größer – wie du weißt,
Liebes«, hatte seine Mutter ihn erinnert.)
Claudia fand, Alice und Leslie seien ein hinreißendes Paar. »Und
jeder sieht, daß sie dich über alles lieben«, fügte sie hinzu.
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