Bis ich dich finde
nach Mrs. McQuats Tod
eine bessere Lehrerin geworden. Sie habe endlich gelernt, das Richtige zu tun.
Doch bei der Trauerfeier für die Frau in Grau hatte die Wurtz kein Halten
gekannt. Sie hatte geweint und geweint, bis sie keine Tränen mehr gehabt hatte.
Fortan – für die dritte Klasse war dieser Tag eine tiefe Zäsur – weinte sie nie
wieder.
Jack stellte sich vor, daß Miss Wurtz in ihrem Nachtgebet noch immer
sagte: »Gott segne Sie, Mrs. McQuat.«
Er selbst sagte es manchmal in seinem Nachtgebet, wenn auch nicht so oft – und niemals so inbrünstig – wie die
unablässig wiederholten Worte: »Michele Maher, Michele Maher, Michele Maher.«
[458] 19
Claudia, die ihn heimsuchen würde
Jack
verzieh der Frau in Grau nie ganz, daß sie im Herbst 1985 den Vorschlag gemacht
hatte, Jack und Claudia sollten mit Miss Wurtz zum Filmfestival gehen. Die
Wurtz war damals in den Vierzigern, und im Gegensatz zu der beinahe
gleichaltrigen Alice wirkte sie aufgrund ihrer Erscheinung und Konstitution wie
eine deutlich ältere Frau. Vielleicht war sie immer schon zu dünn, zu
zerbrechlich gewesen, doch jetzt war das Wurtzigste an ihr eine Zartheit, die
Jack an eine Krankheit denken ließ. Miss Wurtz war auf ihre beschädigte Art
noch immer schön, doch sie sah nicht nur aus, als wäre ihre Gesundheit
angegriffen, sondern schien sich auch für etwas zu schämen. Jack konnte sich
nicht vorstellen, daß sie je etwas getan haben könnte, dessen sie sich schämen
müßte. Vielleicht war es ein lange zurückliegender Skandal, irgendeine
Kleinigkeit, deren sich andere kaum noch entsannen, die in Miss Wurtz’
Erinnerung jedoch pulsierte und brannte.
Ihre Erscheinung schien im Gegensatz zu ihrem zurückhaltenden, ja
geradezu enthaltsamen Wesen zu stehen, denn am meisten Ähnlichkeit hatte Miss
Wurtz mit einer Schauspielerin aus vergangenen Zeiten, mit einer einst
berühmten Frau, die in Vergessenheit geraten ist. Das jedenfalls war der
Eindruck, den Caroline auf dem Filmfestival machte, wo Jack und Claudia sich
mit ihr Paul Schraders Mishima ansahen. »Wer war noch
mal Mishima?« fragte sie, als sie auf den Eingang des Kinos zugingen.
Die beharrlichen Fotografen, die oft Fotos von Claudia machten, weil
sie so gut aussah und man zu der Überzeugung gekommen war, sie müsse einfach
jemand Berühmtes sein, wandten ihre [459] Aufmerksamkeit Miss Wurtz zu. Sie stach
durch ihre große Garderobe aus der Menge – es war, als hätte sie in die Oper
gehen wollen und wäre statt dessen in einem Rockkonzert gelandet. Jack trug
eine schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und ein schwarzes Leinenjackett. (»Ein L.A. -Look«, lautete Claudias Urteil, dabei war sie noch
nie in Los Angeles gewesen.)
Besonders die jungen Fotografen nahmen an, Miss Wurtz sei jemand
Berühmtes – womöglich ein Star, der seinen letzten Film gemacht hatte, als sie
noch gar nicht geboren waren. »Man hätte meinen können, sie wäre Joan
Crawford«, sagte Claudia später. Claudia hatte ein sehr eng anliegendes,
schimmerndes Kleid mit Spaghettiträgern an, nahm es den Fotografen aber nicht
übel, daß sie sich auf die Wurtz stürzten.
»Du liebe Zeit«, flüsterte Miss Wurtz, »sie scheinen dich schon für
eine Berühmtheit zu halten, Jack.« Es war nett, daß sie glaubte, die Aufmerksamkeit
gelte ihm. »Und ich bin vollkommen überzeugt, daß du es bald sein wirst«, fügte
sie hinzu und drückte seine Hand. »Und Sie ebenfalls, meine Liebe«, sagte sie
zu Claudia, die ihren Händedruck erwiderte.
»Und ich dachte, sie wäre längst tot«, sagte ein älterer Mann, doch
Jack verstand nicht, wie die Schauspielerin aus früheren Zeiten hieß, mit der
Miss Wurtz verwechselt worden war.
»Ist Mishima ein Tänzer?« fragte Caroline.
»Nein, ein Schriftsteller –«, wollte Jack sagen, doch Claudia fiel
ihm ins Wort.
»Er war Schriftsteller«, berichtigte sie
ihn.
Und außerdem Schauspieler, Regisseur und durchgeknallter Militarist,
aber Jack kam nicht mehr dazu, das zu sagen. Man geleitete sie durch das Foyer
und zu ihren reservierten Plätzen – und das alles nur, weil jedermann überzeugt
war, daß Miss Caroline Wurtz keine Grundschullehrerin, sondern ein Filmstar
war.
Jack schnappte das Wort »europäisch« auf, das sich [460] wahrscheinlich
auf Miss Wurtz’ Kleid bezog. Es war blaß pfirsichfarben und hatte ihr einst –
vielleicht in Edmonton – gepaßt. Jetzt aber schien es, als würde dieses Kleid,
das sich eher für ein festliches Konzert als für
Weitere Kostenlose Bücher