Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
gegossenen Gefühlen, die Seeleute
als Souvenirs auf ihrer Haut trugen, waren geschmacklose Darstellungen von Feindseligkeit,
Gewalt und Bösartigkeit getreten. Die Skinheads mit ihren Biker-Insignien:
Totenschädel, aus denen Blut spritzte, Flammen, die aus leeren Augenhöhlen
loderten.
    Es gab nackte, sich windende Frauen, die Tatovør-Ole die Schamröte
ins Gesicht getrieben hätten; selbst Herzensbrecher-Madsen hätte sich
vielleicht abgewendet. (Von ihrem Schamhaar war mehr zu sehen als eine
umgedrehte Augenbraue.) Und dann all die Stammeszeichen. Claudia war fasziniert
von einem pickligen Jungen aus Kitchener, Ontario, der sich ein volles Moko stechen ließ, die Gesichtstätowierung der Maoris. Die
magere Freundin des Jungen hatte auf ihrer Hüfte, die sie stolz für Claudia
entblößte, ein Koru, die Spirale, die an einen noch
nicht entrollten Farntrieb erinnert. Jack nahm Claudia beiseite und sagte zu
ihr: »Im allgemeinen lassen sich attraktive Leute nicht tätowieren.« Doch das
stimmte nicht ganz; Jack hatte zu sehr verallgemeinert. Seine Abneigung gegen
die Leute, die im Daughter Alice herumhingen, verleitete ihn zu Übertreibungen.
    Kaum hatte er das gesagt, da trat ein schwuler Bodybuilder ein, der
sein Geld vermutlich als Fotomodell verdiente. Er musterte Claudia flüchtig und
begann dann, schamlos mit Jack zu flirten. »Ich bin eigentlich bloß gekommen,
weil ich eine kleine Änderung will«, sagte er zu Alice, »aber wenn ich wüßte,
wann [468]  dein unverschämt gutaussehender Sohn hier ist, würde ich jeden Tag
kommen und was ändern lassen.«
    Er hieß Edgar. Alice und Claudia fanden ihn charmant und witzig,
doch Jack wendete sich demonstrativ ab. Auf dem einen Schulterblatt des
Bodybuilders war ein geradezu fotografisch genaues Porträt von Clint Eastwood
als Cowboy, komplett mit dem unvermeidlichen Zigarillo. Auf dem anderen
Schulterblatt war die Tätowierung, die geändert werden sollte: eine offenbar
satanisch inspirierte Darstellung der Kreuzigung Christi, bei der Jesus auf das
Rad eines Choppers geflochten war. Die gewünschte Änderung bestand darin, daß
Jesus »ein bißchen mitgenommen« aussehen sollte: Er sollte auf der einen Wange
einen Kratzer und ein paar Blutstropfen haben oder vielleicht eine Wunde an der
Brust.
    »Vielleicht auch beides«, sagte Alice.
    »Glaubst du nicht, das würde irgendwie gewöhnlich aussehen?« fragte
Edgar.
    »Es ist deine Tätowierung«, antwortete Alice.
    Möglicherweise war Claudias Liebe für alles Theatralische der Grund,
warum es ihr im Daughter Alice so gut gefiel. Für Jack war zwar Edgar nicht
häßlich, wohl aber seine Tätowierungen –, und er selbst war ganz sicher
gewöhnlich. Für Jack war fast alles, was er im Daughter Alice sah, häßlicher
als häßlich, und diese Häßlichkeit war beabsichtigt – man war damit nicht fürs
Leben gezeichnet, sondern verstümmelt.
    »Du bist eben ein Snob«, sagte Claudia.
    Ja und nein. Die Welt der Tätowierungen, vor der Jack sich mit vier
Jahren nie gefürchtet hatte, machte ihm mit zwanzig schreckliche angst. Jack
Burns setzte sein Mifune-Gesicht auf – den strafenden Blick des Samurais, der
einen Hund mit einer Hand im Maul vorbeilaufen sieht –, und dabei deutete das,
was er von den Kunden im Daughter Alice zu sehen bekam, auf weit Schlimmeres
hin, als es das Verhalten eines Hundes war.
    [469]  Früher war die Seefahrt das Tor zu allem gewesen, was neu und
fremd war, doch das war längst vorbei. Die neuen Tätowierungen waren aus
Drogenräuschen entstanden: psychedelischer Blödsinn, halluzinogener Horror. Die
neuen Tätowierungen kündeten von sexueller Anarchie und verherrlichten den Tod.
    »May you stay forever young«, sang Bob
Dylan, und Alice sang nicht nur mit, sondern glaubte mit Inbrunst an eine ewige
Jugend, ohne sich bewußt zu machen, daß die jungen Leute, die zu ihr kamen,
nicht die Hippies und Blumenkinder von einst waren.
    Natürlich gab es die Sammler, die bedauernswerten Tintensüchtigen
mit ihren im Werden begriffenen Körpern – ältere Käuze wie William Burns, denen
die Fullbody-Kälte bevorstand –, doch Jacks ganze Verachtung galt seinen
eigenen Altersgenossen. Er haßte die Kerle mit den gepiercten Lippen – manchmal
waren ihre Augenbrauen und Zungen ebenfalls gepierct. Er verabscheute die
Frauen, die sich Brustwarzen und Bauchnabel und manchmal sogar die Schamlippen
hatten piercen lassen. Die Leute in Jacks Alter, die im Daughter Alice
herumhingen, waren wahrlich

Weitere Kostenlose Bücher