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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ebenfalls nicht
sympathisch. Er stammte aus Wellington [472]  und brachte Alice ein paar
Maori-Motive bei. Wie ihre anderen Lehrlinge würde auch er nicht lange bleiben
– höchstens ein paar Monate. Dann würde ein anderer Lehrling kommen, immer
jemand, von dem sie ein, zwei Dinge lernen konnte, während sie ihm wesentlich
mehr beibrachte. (So funktionierte die ganze Branche – das wenigstens hatte
sich nicht geändert.)
    Lange vor dem Ende der achtziger Jahre trug jeder Tätowierer in
den USA und Kanada, der auf der Höhe der Zeit
war, wegen der Aidsgefahr Gummihandschuhe. Jack konnte sich nie an den Anblick
seiner Mutter mit diesen Handschuhen gewöhnen. Ihr Studio machte keinen
besonders sauberen Eindruck – dennoch trug sie Handschuhe wie eine Ärztin oder
Krankenschwester. Dabei floß beim Tätowieren gar kein Blut, sofern man alles
richtig machte.
    Doch so manches war im Daughter Alice beim alten geblieben: die
Pigmente in den Pappbecherchen, der mannigfache Einsatz von Vaseline, das
eigenartige, an eine Zahnarztpraxis gemahnende Surren der Nadeln in den
Maschinen, der Geruch nach perforierter Haut, der Kaffee, der Tee, der klebrige
Honigtopf. Und über allem schwebte die näselnde Stimme von Bob, der sich noch
immer über dies und das beklagte und drohendes Unheil oder irgendein anderes
weltbewegendes Ereignis prophezeite.
    »Dylan geht einem unter die Haut«, sagte Alice, »wie die Tinte einer
Tätowierung.«
    Während Claudia sich ihr Zepter stechen ließ, ertönte »It’s All Over
Now, Baby Blue«. Claudia biß die Zähne zusammen und achtete wahrscheinlich gar
nicht darauf. Für Jack bestand ihr Geheimnis zum Teil darin, daß sie sich weder
Bob Dylan noch irgend jemand anders unter die Haut gehen ließ.
    Irgendein Kiffer tat sich Honig in den Kaffee – vielleicht dachte
er, es sei Tee. Er nickte im Takt wie einer dieser [473]  Kunststoffdackel, die
manche Leute auf die Hutablage ihres Wagens stellten. Er stamme von »irgendwo
an der Küste«, sagte er zu Jack, als wäre ihm der Name der Stadt entfallen oder
als habe er ihn aus den Überresten seines drogengeschädigten Hirns verdrängt.
Er hatte auf einem Unterarm das Abbild eines grün-roten Hummers. Das Tier sah
aus, als wäre es nur halb gekocht – daher erschien der Verzehr nicht ratsam.
    Bob jaulte weiter.
     
    Yonder stands your orphan with his gun,
Crying like a fire in the sun.
    Das Schild mit der Aufschrift »Daughter Alice« im Schaufenster
des Studios war aus bemaltem Holz. »So fröhlich wie das sonnige Leith, wo die
Sonne nie scheint«, pflegte Alice über das bunte Schild zu sagen. Es gemahnte
an die Seefahrt, als wäre »Daughter Alice« der Name eines Schiffs oder eines
Bestimmungshafens. »Daughter Alice ist ein Name, der Matrosen gefällt«, sagte
sie immer – und tatsächlich stammte er ja auch von Tatovør-Ole in Kopenhagen.
    »All your seasick sailors, they are rowing home«, sang Bob Dylan.
    Vielleicht rudern sie auch hierher, dachte
Jack. Er warf einen Blick auf Claudia hinter dem Vorhang. Sie lächelte ihm zu
und hatte die Fäuste geballt. »Das Zepter ist ein buddhistisches Symbol«, sagte
Alice leise, während die Nadeln auf Claudias Haut tanzten und sie gequält das
Gesicht verzog. (Jack wußte, daß das Tätowieren an der Innenseite der Glieder
mehr schmerzte als an der Außenseite.) »Die Form des Zepters ist abgeleitet vom
magischen Pilz des ewigen Lebens«, fuhr Alice fort.
    Ein Pilz des ewigen Lebens? Was kam als nächstes? Jack wandte sich
ab. Die Gummihandschuhe störten ihn wirklich. Er musterte lieber den Kiffer von
der Küste – der Typ sah aus, als [474]  würde er von dem Honig in seinem Kaffee
high werden. Nach diesem Aufenthalt in Toronto war Jack davon überzeugt, daß
diese Stadt niemals seine wahre Heimat sein würde.
    »Forget the dead you’ve left, they will not
follow you«, sang Bob, wie immer mit größtmöglicher Autorität. Er hatte
in vielen Punkten recht, aber nicht in diesem. Wie Jack noch merken sollte, gab
es nichts, was einem nicht folgte.
    Das Zepter hoch an der Innenseite des Oberschenkels machte
während der verbleibenden Zeit in Toronto das Vögeln für Claudia zu einer
schmerzhaften Sache. Jack spürte, daß er ihre Zuneigung immer mehr verlor, und
auch ohne die neue Tätowierung hätte sie sich wohl geweigert, mit ihm zu
schlafen. (Daß sie in Emmas Bett lagen, machte die Sache nicht besser.) Sie
reisten noch vor dem Ende des Festivals wieder ab.
    Jack merkte, daß Claudia

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