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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Zweifellos
betrachtete Jack den Soldaten als eine Art Kind.
    Plötzlich überfiel den Soldaten die Erinnerung an seinen Alptraum
mit erneuter Heftigkeit. Mit wilden Tritten warf er die Bettdecke ab – im
Schein des Badezimmerlichts sah Jack seinen nackten Hintern –, und Alice schien
ihn zu fest an sich zu drücken, denn er stöhnte und wimmerte. In dieser Sekunde
öffnete Alice die Augen und sah ihren Sohn dort stehen: noch einen kleinen
Soldaten, dieser in Habachtstellung. Sie erkannte ihn zunächst nicht, doch das
lag sicher an der Uniform.
    Ihr Schrei erschreckte Jack ebenso wie den Soldaten. Als dieser den
Vierjährigen in seiner Uniform erblickte, schrie er ebenfalls. (Wieder klang er
wie ein kleiner Junge.) Und Jack hatte plötzlich eine solche Angst vor dem
Alptraum, der den kleinsten Soldaten von allen offenbar ebenfalls überfallen
hatte, daß auch er zu schreien begann. Außerdem pinkelte er in die Hose,
genaugenommen in die Hose des kleinsten Soldaten von allen.
    »Jackie!« rief seine Mutter, als sie sich wieder ein wenig gefaßt
hatte.
    »Ich hab geträumt, daß ich in dem Graben ertrunken bin«, sagte Jack.
»Da waren lauter tote Soldaten aus der Vergangenheit. Du warst auch da«, sagte er zu dem Soldaten.
    Der Soldat sah jetzt nicht mehr so klein aus. Jack war erstaunt über
die Größe seines Penis: halb so lang wie das Bajonett für das Gewehr, mit dem
er Jack gerettet hatte, und wie ein Bajonett stand er in einem spitzen Winkel
nach oben.
    [55]  »Du gehst jetzt besser«, sagte Alice zu dem kleinsten Soldaten
von allen.
    Er nahm den Marschbefehl mit berufstypischer Ergebenheit entgegen,
begab sich ohne ein Wort des Protestes ins Badezimmer und kehrte, als er dort
alles Nötige erledigt hatte, in Alice’ Zimmer zurück, um seine Kleider zu
holen. Jack hatte die Uniform ausgezogen und ordentlich gefaltet auf den Stuhl
gelegt, dann war er zu seiner Mutter ins Bett geschlüpft.
    Gemeinsam sahen sie zu, wie der Soldat sich anzog. Es war Jack
peinlich, daß er in die Hose seines Retters gepinkelt hatte, und er konnte
erkennen, wann der kleine Held merkte, was geschehen war. Auf seinem Gesicht
erschien ein Ausdruck von Unsicherheit und Qual – ganz ähnlich wie das
Unbehagen und die Angst, die Jack dort gesehen hatte, als das mutige Kerlchen
in seinen langen Unterhosen Zentimeter für Zentimeter über das dünne Eis des
Grabens gekrochen war.
    Doch er war Soldat; er bedachte Jack mit einem Blick, aus dem großes
Verständnis und widerwilliger Respekt sprachen, als fände er es der Situation
angemessen, daß der Junge in seine Hose gepinkelt hatte. Und bevor er ging,
führte er Jack und seiner Mutter vor, was Jack ihnen hatte vorführen wollen: Er
salutierte zackig.
    Obgleich Jack ihn splitternackt gesehen hatte, war ihm keine
Tätowierung aufgefallen; der kleinste Soldat von allen trug nicht einmal einen
Verband. Um nicht wieder einzuschlafen – und wahrscheinlich zu seinem Alptraum
über das Ertrinken im Kastelsgraven zurückzukehren –, dachte Jack darüber nach.
    Er stellte seiner Mutter die Frage, die ihn beunruhigte. »Hast du
ihm eine Gratistätowierung gemacht? Ich hab keine gesehen.«
    »Ja… natürlich hab ich ihm eine gemacht«, antwortete sie zögernd.
»Du hast sie nur nicht bemerkt.«
    »Und was für eine war es?«
    [56]  »Ein… ein kleiner Soldat«, antwortete sie und zögerte noch mehr.
»Sogar noch kleiner als er.«
    Jack hatte das gefällte Halbbajonett des Penis gesehen und seinen
Eindruck von der Kleinheit des Soldaten revidiert, doch zu seiner Mutter sagte
er nur: »Und wohin?«
    »Auf einen seiner Knöchel. Den linken«, sagte sie.
    Der Junge dachte, daß das Badezimmerlicht ihm einen Streich gespielt
haben mußte, denn er hatte die Knöchel des kleinen Soldaten eingehend
betrachtet und keine Tätowierung bemerkt. Er hatte sie vermutlich übersehen,
ganz wie seine Mutter gesagt hatte.
    Wie so oft nach einem Alptraum schlief er in ihren Armen ein, und
zwar nicht in der unbequemen Stellung, die der kleinste Soldat von allen
eingenommen hatte.
    Das war in Kopenhagen, einer Stadt, die Jack Burns erst dreißig
Jahre später wieder besuchen würde. Doch er vergaß weder Tatovør-Ole noch
Herzensbrecher-Madsen oder die Freundlichkeit, mit der sie seine Mutter und ihn
aufgenommen hatten. Oder den zugefrorenen Graben, den Kastelsgraven, der
beinahe sein Grab geworden wäre. Oder den kleinsten Soldaten von allen, der ihn
und damit auch Jacks Mutter gerettet hatte.
    In Wirklichkeit

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