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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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jung
noch schön war, schien daran großen Anstoß zu nehmen. Sie sprach sehr gut
Englisch – sie hätte durchaus Engländerin sein können –, und
höchstwahrscheinlich war sie es, die den Geschäftsführer des Hotels darüber
informierte, daß Alice auf ihrem Zimmer tätowierte.
    Die Tätowiermaschinen, die Farben, die Batterien, der Fußschalter,
die Pappbecherchen, die Fläschchen mit Alkohol, Hamamelisextrakt und Glyzerin,
die Papiertücher – es war so viel Zeug! Dennoch war immer alles ordentlich
weggeräumt, wenn die Zimmermädchen kamen. In Stockholm war Tätowieren etwas,
was im Untergrund geschah, und die Leitung des Grand Hotels wäre kaum
begeistert gewesen, wenn sie erfahren hätte, daß Alice auf ihrem Zimmer mit
ebendieser Tätigkeit Geld verdiente.
    Obgleich er später vermutete, daß die Englisch sprechende Lesbe für
den Ärger mit dem Geschäftsführer verantwortlich gewesen war, wußte er damals
nichts von den Verhandlungen, die [63]  seine Mutter mit diesem Mann führte. Er
stellte nur fest, daß sich ihre Einstellung zum Grand Hotel abrupt veränderte.
Sie begann Dinge zu sagen wie: »Wenn ich heute nicht erfahre, wo dieser Doc
Forest steckt, ziehen wir morgen aus.« Aber dann blieben sie doch. Nachts
wachte Jack oft auf, und dann war seine Mutter nicht da. Er war noch zu klein,
um die Uhr lesen zu können, aber es kam ihm so vor, als wäre es sehr spät in
der Nacht – eigentlich konnte um diese Zeit doch niemand mehr im Speisesaal
sein. Wo war Alice? Ob sie dem Geschäftsführer eine Gratistätowierung machte?
    Sie hatten das Glück, den Buchhalter kennenzulernen. Schon bald
fragte sich Jack, ob seine Mutter in jeder Stadt jemanden kennenlernen mußte,
der sie beide rettete. Es war natürlich ein bißchen enttäuschend, von einem Buchhalter gerettet zu werden, besonders wenn man die
Bekanntschaft eines Helden gemacht hatte, wie der kleinste Soldat von allen
einer war. Jack und seine Mutter entdeckten ihn beim Frühstück im Grand Hotel,
und natürlich wußten sie nicht, daß er Buchhalter war.
    Er hieß Torsten Lindberg und war so dünn, daß er mehr als nur eine
Mahlzeit zu brauchen schien, doch das Frühstück war für ihn – wie für Alice und
Jack – immer ein großes Ereignis. Er fiel ihnen nicht auf, weil er wie ein
potentieller Kunde aussah, sondern, weil er sich eine gewaltige Portion Hering
auf den Teller geladen hatte (Jack und Alice haßten Hering) und sich mit offensichtlichem
Genuß darüber hermachte. Sie dachten nicht daran, diesen großen, schwermütig
wirkenden Mann zu fragen, ob er eine Tätowierung habe oder wolle, sondern sahen
ihm, gebannt von seinem Appetit, beim Essen zu und fragten sich unwillkürlich,
ob das Frühstück im Grand Hotel vielleicht auch seine einzige vollständige Mahlzeit des Tages war. Sein Appetit– wenn auch nicht
seine Vorliebe für Hering – ließ ihn als verwandte Seele erscheinen.
    Wahrscheinlich starrten sie ihn an; das würde erklären, warum [64]  Torsten Lindberg zurückzustarren begann. Später sagte er, ihm sei
aufgefallen, daß sie von allem sehr viel aßen und nur keinen Hering anrührten.
Als gewiefter Buchhalter konnte er sich zusammenreimen, daß sie versuchten,
ihre Ausgaben gering zu halten.
    Jack hatte sorgsam die Pilze aus seinem 3-Eier-Omelett gepickt und
für seine Mutter beiseite gelegt. Sie hatte ihre Crêpes gegessen und die
Melonenkügelchen für ihn aufgehoben. Lindberg fuhr fort, den Heringsberg zu
verschlingen.
    Wer glaubt, Buchhalter seien in finanziellen und emotionalen Dingen
knickrig und im Umgang mit Kindern humorlos, kennt Torsten Lindberg nicht. Als
er seine große Mahlzeit beendet hatte – Jack und Alice waren mit ihrem
Frühstück noch nicht fertig und sahen sich nach Kunden um –, trat er an ihren
Tisch und lächelte Jack freundlich an. Er sagte etwas auf schwedisch, und der
Junge sah hilfesuchend zu seiner Mutter.
    »Es tut mir leid – er spricht nur Englisch«, sagte Alice.
    »Ausgezeichnet!« rief Lindberg, als bräuchten gerade Englisch sprechende
Kinder eine besondere Aufmunterung. »Hast du schon mal einen Fisch gesehen, der
ohne Wasser schwimmen kann?« fragte er den Jungen.
    »Nein.«
    Er trug einen dunkelblauen Anzug und eine Krawatte, doch sein
Verhalten war eher das eines Clowns. Er mochte aussehen, als wäre er unterwegs
zu einer Beerdigung – ja, schlimmer noch, als wäre er ein für einen überlangen
Sarg hergerichtetes Skelett –, doch die Art, wie er sich diesem Kind
vorstellte,

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