Bis ich dich finde
Ringhof, ein Zwölfjähriger, der auf die
Dreizehn zuging – ein allerhöchstens Dreizehnjähriger, der von Jacks Mutter sexuell mißbraucht worden war. (So
sicher, wie sich Mrs. Machado an Jack vergangen hatte!)
Jack verabredete sich mit dem Organisten der Kastelskirken, der
Zitadellenkirche. Der Blick vom Kirchenvorplatz auf das Haus des Kommandanten
war Jack vertraut; er erinnerte sich, wie man ihn vom Kastelsgraven zum Haus
des Kommandanten getragen und ihm Kleider von Niels Ringhof angezogen hatte.
(Seine Zivilkleidung, hatte Alice sie genannt. Sie
war eine geschickte Lügnerin gewesen.)
Der Organist der Zitadellenkirche war Lasse Ewerlöf. Ein schwedisch
klingender Name – vielleicht war er Schwede. Mit vierzehn hatte er Sitar, Geige
und Klavier studiert; mit der Orgel hatte er relativ spät angefangen, mit
neunzehn oder zwanzig. Zu Jacks Enttäuschung konnte Ewerlöf ihre Verabredung
nicht einhalten – er war recht plötzlich aus Kopenhagen abberufen worden, um
auf der Beerdigung eines alten Freundes Orgel zu spielen –, aber er war so
freundlich gewesen, seinen Vertreter an der Kastelskirken zu bitten, sich statt
seiner mit Jack zu treffen.
Lasse Ewerlöf wußte, daß Jack daran interessiert war, ein bißchen
Weihnachtsmusik zu hören – nur um sich vorstellen zu können, was er bei jenen
(niemals gehörten) Weihnachtskonzerten gehört haben könnte, von denen sein
Vater geglaubt hatte, sie wären anregend für ihn. Ewerlöf hatte Jack eine Liste
seiner Lieblingsweihnachtsstücke für Orgel dagelassen, die sein Vertreter – ein
älterer Mann, der Jack erzählte, er sei schon halb im Ruhestand, weil er unter
Arthritis in den Händen leide – zu spielen anbot.
»Bekommen Sie denn davon keine Schmerzen in den Händen?« fragte ihn
Jack. Der stellvertretende Organist hieß Mads [736] Lindhardt; er war Schüler von
Anker Rasmussen gewesen und hatte Jacks Vater gekannt.
»Nicht, wenn ich nicht zu lange spiele«, sagte Lindhardt. »Außerdem
wäre es mir eine Ehre, für William Burns’ Sohn zu spielen. William war etwas
Besonderes. Natürlich war ich neidisch auf ihn, als ich ihn zum erstenmal
spielen hörte, weil Ihr Vater stets besser war als ich. Höchst ungerecht, er
ist nämlich auch jünger !«
Jack war nicht darauf vorbereitet, im Kastellet jemanden zu treffen,
der seinen Vater tätsächlich gekannt hatte – und schon gar nicht jemanden, der
seinen Vater für »etwas Besonderes« hielt. Jack konnte nicht antworten; alles,
was er tun konnte, war, Mads Lindhardt beim Orgelspielen zuzuhören. Daß mit
Lindhardts Händen etwas nicht in Ordnung war, merkte Jack kaum.
Bis auf zwei Putzfrauen, die den Steinboden wischten, waren sie
allein in der Kastelskirken. Die Frauen mochten es seltsam finden, an einem
verregneten Aprilvormittag Weihnachtsmusik zu hören, aber es schien ihre Arbeit
nicht zu beeinträchtigen.
Zu Lasse Ewerlöfs Lieblingsweihnachtsstücken, erfuhr Jack von Mads
Lindhardt, gehörten auch einige von Williams Lieblingsstücken. Bachs Weihnachtsoratorium und seine Canonischen
Veränderungen über das Weihnachtslied, von denen Jack bereits wußte, daß
sein Vater sie gern spielte; außerdem Messiaens La nativité
du Seigneur und Charpentiers Messe de minuit, die Jack neu waren.
Während er Mads Lindhardt zuhörte, wurde Jack klar, daß William sich
wohl (häufig) vorgestellt hatte, er spiele seinem
Sohn auf der Orgel vor. Aber das war verboten gewesen, untergegangen mit den
anderen Dingen, die Alice nicht erlaubt hatte.
»Es ist Weihnachtsmusik, Mr. Burns«, sagte Mads Lindhardt sanft.
Erst da bemerkte Jack, daß der Organist aufgehört hatte zu spielen. »Sie soll
einen froh stimmen.« Aber Jack weinte. »Dieser Junge, Niels, war der Liebling
der Zitadelle«, sagte Mads. [737] »Und Ihr Vater war der Liebling der ganzen
Familie Ringhof – deswegen war es auch eine solche Tragödie. Kein Mensch hat
Ihrem Vater die Schuld an dem gegeben, was Niels zugestoßen ist. Aber Karin
hatte ihren kleinen Bruder abgöttisch geliebt; verständlicherweise veränderte
sich ihr Verhältnis zu Ihrem Vater. Sogar der Kommandant zeigte Verständnis,
aber er war ein gebrochener Mann. Für ihn war es, als hätte er zwei Söhne verloren.«
»Wo sind die Ringhofs jetzt?« fragte Jack.
Oberstleutnant Ringhof befand sich im Ruhestand. Er war ein alter
Mann, der in Frederiksberg wohnte – einem Ort unweit von Kopenhagen, wo viele
Ruheständler wohnten. Karin, seine Tochter, hatte nie geheiratet; sie
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