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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Irgendwie hat sie ihn
schwer beeindruckt.«
    Niels Ringhofs Kleider hatten Jack beinahe gepaßt, nicht aber die
Uniform; Niels hatte sie offensichtlich ausgeliehen oder gestohlen. Vielleicht
hatte Alice ihn auf diese Weise aus der Zitadelle heraus- und wieder hineingeschmuggelt
– sie hatte ihn als Soldaten verkleidet. Und in jener Nacht, in der sie ihn vom
D’Angleterre aus zurückgeschickt hatte, mußte er allein nach Hause gegangen
sein!
    »Wie alt war er gleich noch mal? Hast du zwölf gesagt?« fragte Jack.
    [733]  »Vielleicht zwölf, knapp dreizehn, Jack. Ich würde sagen, allerhöchstens dreizehn.«
    An ihrem letzten Abend in Kopenhagen hatten Tatovør-Ole und Lars ihn
und seine Mutter in ein schickes Restaurant am Nyhavn ausgeführt. Aber William
hatte die Rechnung bezahlt. Das mußte Williams letzter Blick auf seinen Sohn in
Kopenhagen gewesen sein – sein und Karins letzter
Blick, denn Jacks Mutter hatte darauf bestanden, daß sein Vater Karin in das
Restaurant mitbrachte. (»Um uns zu verabschieden«, hatte Alice zu seinem Vater
gesagt.)
    »Sie waren da, im Restaurant?« fragte Jack.
    »An einem Tisch auf der Seite, wo der Kamin war«, antwortete
Herzensbrecher. »Vielleicht erinnerst du dich noch an das Restaurant, Jack. Du
hast Kaninchen gegessen.«
    Aber Alice hatte Niels Ringhof nicht gesagt, daß sie abreiste; der
Zwölf- oder Dreizehnjährige war am Boden zerstört. Bis zu dem Tag, an dem Jack
und seine Mutter Kopenhagen verließen, hatten Karin Ringhof und ihr Vater, der
Kommandant, keine Ahnung, daß der Junge sich mit Alice getroffen hatte – ganz
zu schweigen davon, wie heftig das Kind in sie verschossen war. Auch William
hatte keine Ahnung.
    »Was ist mit dem Jungen passiert?« fragte Jack. Es hatte wieder zu
regnen begonnen, was kein gutes Zeichen war.
    »Niels hat sich erschossen«, sagte Madsen. »Schließlich war es ja
eine Kaserne, militärisches Gelände. Da gab es jede Menge Schußwaffen. Der
Junge ist entweder an der Schußwunde gestorben oder im Kastelsgraven ertrunken.
Sie haben seine Leiche im Schloßgraben gefunden, ungefähr dort, wo du ins Eis
eingebrochen bist. Er ist dort gestorben, wo er dich gerettet hat, Jack.«
    Der Schloßgraben, der Kastelsgraven, sah eher wie ein Teich oder
ein kleiner See aus. Im April war das Wasser eisfrei und hatte eine
grünlich-graue Farbe. Jack fand nicht, daß es tief [734]  genug aussah, um darin zu
ertrinken, aber es mochte ausgereicht haben, als er vier war. Und Niels Ringhof
war erst zwölf oder dreizehn gewesen, und er hatte sich einfach erschossen; für
Niels war der Kastelsgraven eindeutig tief genug gewesen.
    Wenn der Schloßgraben zugefroren gewesen wäre, hätte Jack es
abermals ausprobiert – diesmal in der Hoffnung, daß niemand ihn retten würde.
Die hölzerne Uferbefestigung, auf der die Soldatenstiefel einen solchen Lärm
gemacht hatten – sogar die Enten hatten sie damit in die Flucht geschlagen –,
sah jetzt aus wie eine Spielzeugstraße.
    Natürlich wußte Jack, daß es nicht Anker Rasmussen, der Organist,
gewesen sein konnte, der mit Alice angerannt gekommen war. Aller
Wahrscheinlichkeit nach hatte es überhaupt keinen Militärorganisten, keinen
Militärmusiker an der Kastelskirken gegeben. Der Mann in Uniform mußte der
Kommandant, Oberstleutnant Ringhof, gewesen sein; er hatte nach seinem kleinen
Sohn geschickt, der krank im Bett lag, denn er hatte gewußt, daß das Eis Niels,
aber keinen Soldaten tragen würde.
    Warum Jack immer noch diesen Alptraum hatte, wenn er vom Tod
träumte, wurde ihm an jenem Aprilvormittag in Kopenhagen endlich klar. Es
regnete immer noch, aber was machte das schon? In Jacks Augen war er bereits
ertrunken. Wenn er, wie jedesmal, mit einem anhaltenden Kältegefühl erwachte,
so wußte er nun, woher die Kälte kam – vom Schloßgraben, vom Kastelsgraven, wo
er stets auf jene toten Soldaten Europas aus vielen Jahrhunderten traf. Unter
ihnen stach der kleine Held hervor, der ihn gerettet hatte – am auffälligsten
nicht wegen der unverhältnismäßigen Größe seines Penis, die Jack in seiner
höchst unzuverlässigen Erinnerung wahrscheinlich übersteigert hatte, sondern
wegen der stoischen Gelassenheit seines erstarrten Grußes.
    An den Gruß hatte sich Jack zutreffend erinnert; es war kein
richtiger militärischer Gruß, sondern die Imitation eines Soldaten durch einen
kleinen Jungen gewesen. Nicht der kleinste [735]  Soldat von allen, den es nur in
Jacks Phantasie gab, sondern Niels

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