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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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oder?« hatte sie Alice gefragt.
»Süße Träume.«
    »Manchmal«, hatte Alice gesagt, und Hanneles tapferes Pfeifen war
für einen Augenblick verstummt – als wäre der Schmerz, den das Schattieren an
der Brust und den Rippen hervorrief, mit einemmal unerträglich geworden. Aber
Jack war sich sicher gewesen, daß ihr die Worte »Süße Träume« und nicht die
Nadeln weh getan hatten. (Ein typisches Nicht-wenn-Jack-dabei-ist-Thema!)
    Jack erzählte Hannele und Ritva von der erstaunlich dauerhaften
Beziehung seiner Mutter mit Leslie Oastler: Zwar habe Alice im gleichen
Zeitraum wahrscheinlich noch andere, unbedeutendere Beziehungen gehabt, aber
ihre Beziehung mit einer anderen Frau sei als einzige von Dauer gewesen. Ob
Hannele und Ritva das wundere, wollte er wissen.
    Die beiden Frauen wechselten einen Blick und zuckten die Achseln.
»Es gab nichts, was deine Mutter nicht getan hätte, Jack«, sagte Ritva, »wenn
sie damit eine Wirkung – irgendeine Wirkung – auf deinen Vater erzielen
konnte.«
    »Ich glaube, nach William war es Alice egal, mit wem sie schlief«,
sagte Hannele zu ihm. »Ob Mann, Frau oder kleiner Junge.«
    [795]  Die Schwarzweißfotos an den Wänden zeigten hauptsächlich Hannele
und Ritva. Vielfach handelte es sich um Fotos von Konzerten. Eines zeigte Ritva
auf der Orgelbank in der Johanneksen Kirkko, wo Jack mit seiner Mutter
hingegangen war – nach einem kräftigen Schneefall, wie er sich erinnerte. Ritva
wurde auf der Orgelbank von ihren beiden Lehrern flankiert: von Kari Vaara, dem
Organisten mit der wilden Mähne, und einem gutaussehenden, schmallippigen
jungen Mann, dessen schulterlange Haare ein Gesicht einrahmten, das so feingeschnitten
war wie das eines Mädchens.
    »Mein Vater?« fragte Jack und deutete auf das Bild. William sah fast
genauso aus wie an jenem Abend im Restaurant des Hotels Bristol.
    »Ja, natürlich«, sagte Ritva. »Hast du etwa noch nie ein Bild von
ihm gesehen?«
    »Was glaubst du denn, Ritva?« fragte Hannele. »Meinst du etwa, Alice
hat ein Fotoalbum für Jack zusammengestellt?«
    Jack war nicht darauf gefaßt, wie jung sein Vater aussah. 1970, in
Helsinki, war William Burns einunddreißig gewesen, ein paar Jahre jünger als Jack
jetzt. (Es ist seltsam, zum erstenmal ein Bild des eigenen Vaters zu sehen, auf
dem er jünger ist als man selbst.) Auch auf die Ähnlichkeit war Jack nicht
gefaßt; William sah fast genauso aus wie er selbst.
    Natürlich wirkte William neben Ritva und Kari Vaara klein. William
war ein kleiner, aber kräftig aussehender Mann, nicht schmächtig, doch mit
irgendwie femininen Gesichtszügen und den langen Fingern eines Organisten.
(Jack hatte die kleinen Hände und kurzen, kantigen Finger seiner Mutter.)
    William trug ein langärmeliges weißes Hemd, dessen oberster Knopf
geöffnet war. Über ihm ragten die Pfeifen der Walcker aus Württemberg auf. Jack
fragte Hannele und Ritva nach den Tätowierungen seines Vaters.
    »Hab ich nie gesehen«, sagte Hannele.
    [796]  Im Schlafzimmer sah Jack Schwarzweißfotos von Hanneles und Ritvas
Tätowierungen – bloß ihre nackten Oberkörper, die Herzhälfte jeweils auf der
linken Brust. Zumindest die Tätowierungen waren so, wie er sie in Erinnerung
hatte, doch Hannele hatte sich die Achseln rasiert; ihre flach über dem Nabel
verschränkten Hände verbargen das Muttermal vor dem Fotografen.
    Daß die beiden noch andere Tätowierungen hatten, kam ein wenig
überraschend. Ein paar Noten zierten Hanneles Hüfte; weitere Noten – es sah
nach der gleichen Phrase aus – befanden sich auf Ritvas Pobacken. Wie bei den
Fotos von ihrem gemeinsamen Herzen handelte es sich um Nahaufnahmen,
Teilansichten. Aber Hannele und Ritva waren körperlich so verschiedene Typen,
daß Jack keine Mühe hatte, sie auseinanderzuhalten.
    »Was für Musik ist das?« fragte er sie.
    »Wir haben das vorhin gespielt, bevor du in die Kirche gekommen
bist«, sagte Ritva. »Auch ein Stück, das William uns beigebracht hat, ein
Kirchenlied, das er früher in Old St. Paul’s gespielt hat.«
    »›Erlöse mich, du Odem Gottes‹«, sagte Hannele zu Jack. Sie begann
es ihm vorzusummen. »Wir kennen nur die Musik, nicht den Text, aber es ist ein
Kirchenlied.«
    Es klang vertraut. Vielleicht hatte Jack es in St. Hilda gehört oder
sogar gesungen. Er wußte, daß er es in Amsterdam, im Rotlichtviertel, von
seiner Mutter gehört hatte. Wenn sein Vater es früher in Old St. Paul’s
gespielt hatte, dann war es wahrscheinlich ein

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